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Buchbesprechung: Tamta Melaschwili „Abzählen“

melaschwili_abzaehlenLesealter 15+(Unionsverlag 2012, 105 Seiten)

Da hat in diesem Jahr das einzige Jugendbuch, das ich nicht gelesen habe, den Deutschen Jugendliteraturpreis gewonnen, und im Bericht über die Preisverleihung habe ich versprochen, dass ich eine Buchbesprechung nachholen werde. Dass das von der georgischen Schriftstellerin Tamta Melaschwili geschriebene „Abzählen“ an mir vorbeigegangen ist, hatte seinen Grund: Es ist nicht explizit als Jugendroman veröffentlicht, von daher auch hauptsächlich in den „normalen“ Literaturbeilagen besprochen worden. Dennoch: Nach der Nominierung im März 2013 hätte ich es natürlich lesen sollen …

Inhalt:

Irgendwo in Georgien zu einer nicht näher bestimmten Zeit: Es herrscht Krieg. Für Zknapa und Ninzo, beide Mädchen sind 13 Jahre alt, ist das eine schwere Zeit: Fast nur noch Frauen sind um sie herum, die Männer sind in den Krieg gezogen oder tot. Bloß einige alte und versehrte Männer sowie Jungen sind übrig geblieben.

Zknapas Mutter muss ein kleines Baby versorgen, hat jedoch nicht genug Milch, um es zu stillen, und so ist die Sorge groß, dass der Junge nicht mehr lange leben wird. Nahrung ist jedoch schlecht aufzutreiben. Zknapa und Ninzo tun ihr Bestes und versuchen an Milch und Medikamente zu kommen – notfalls auch, indem sie stehlen.

Auch Ninzos Familie geht es nicht besser: Das Mädchen hat nur noch seine Großeltern, doch der Großvater hat resigniert und will nichts von seiner Frau wissen, obwohl diese schwerkrank ist und wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben hat. So wie Zknapa für ihre Mutter und ihren Bruder ist auch Ninzo dafür verantwortlich, dass die Großeltern überleben: Mit Zknapa zusammen sticht Ninzo auf Feldern Spitzwegerich aus, der verhindern soll, dass sich ihre Großmutter wundliegt. Dennoch geht es der Großmutter immer schlechter …

Bewertung:

„Abzählen“ (Übersetzung: Natia Mikeladse-Bachsoliani) ist ein heftiges Buch, das vom Krieg in Georgien erzählt. So ganz klar ist mir nicht, zur Zeit welchen Krieges das Buch spielt, denn Georgien ist ein Land, in dem es nach der Auflösung der UdSSR viele Konflikte gab (darunter den Kaukasuskrieg im Jahr 2008) – aber letztendlich ist das für den Leser wohl auch nicht so wichtig. Kriegszeiten sind in dem, was die Bevölkerung erleidet, in vielem austauschbar und gleich schlimm – und davon erzählt Tamta Melaschwili sehr eindrücklich aus der Sicht der 13-jährigen Erzählerin Zknapa und ihrer Freundin Ninzo, die sich durchs Leben zu schlagen versuchen.

Um es gleich an dieser Stelle zu sagen: „Abzählen“ ist nicht nur wegen des Inhalts, sondern fast noch mehr wegen seiner Erzählweise, kein einfach zu lesendes Buch. Der Roman kennt kurze Kapitel (meist mit dem Wochentag überschrieben), in denen jeweils eine kleine Episode aus dem Leben von Zknapa und Ninzo erzählt wird, ist ansonsten aber so gut wie ohne Absätze geschrieben. Selbst wörtliche Rede ist nicht richtig kenntlich gemacht – im Text heißt es dann oft einfach:

Ninzo schaut mich groß an. Ist ja gut. Wir nehmen den andern Weg. Sag ich: Schau dich um. Sagt Ninzo: Niemand zu sehn. Ich kletter als Erste rüber, Ninzo folgt mir. Ich flink, sie etwas langsamer. (S. 11)

Ja, dieses Buch kann man nicht einfach herunterlesen. Es dauert, bis man sich an diesen Stil gewöhnt hat, und erst nach 30 bis 40 Seiten kommt man etwas schneller als zu Beginn voran.

Auch die fremd klingenden Namen im Buch machen die Lektüre nicht gerade einfach. Während Zknapa und Ninzo einem bald vertrauter sind, bleiben die anderen Figuren eher Randerscheinungen. Fast etwas stereotyp sind diese Figuren angelegt: ein Trunkenbold, ein wild in der Luft herumballernder Kriegsversehrter, die nicht mehr leben wollende Mutter von Zknapa, etc. Ich habe mich lange gefragt, ob ich diese Stereotypien gelungen finde oder eher für zu banal halte. Aber letztendlich zeigen sie wohl die Herzlosigkeit des Krieges: Richtige Beziehungen sind kaum möglich, die Menschen bleiben Schemen ihrer selbst; sie sind austauschbar und aufs Elementare reduziert.

Wie schon gesagt: Die einzelnen Kapitel erzählen kurze Episoden, und ab der Mitte des Buches hat mich „Abzählen“ wegen der in den Kapiteln erzeugten hoffnungslosen Stimmung, aber auch wegen der Konzentration aufs Wesentliche zunehmend an Georg Büchners „Woyzeck“ erinnert. Das ist zwar ein Drama, aber ähnlich episodisch, allerdings noch etwas fragmetarischer aufgebaut. Spätestens als dieser Vergleich in meinem Kopf herumspukte, war für mich klar, dass „Abzählen“ kein einfaches, aber ein literarisch großes Buch ist, das von den Schrecken und Übeln des Krieges für zwei Mädchen erzählt.

Vielleicht passt da auch etwas anderes dazu: Den Schluss des Buches (auch bei Büchner ist es nicht immer einfach zu wissen, worum es in den einzelnen Szenen geht) habe ich nicht so ganz verstanden – und das, obwohl ich die letzten Seiten mehrmals gelesen habe.

Fazit:

4 von 5 Punkten. Ich will keinesfalls abstreiten, dass „Abzählen“ ein literarisch dichtes und stilistisch gewagtes, ja, aufsehenerregendes Buch ist. Der Text ist sperrig, er lässt sich nicht runterlesen; man legt das Buch irritiert aus der Hand und grübelt noch länger darüber nach. Die Geschichte zweier Mädchen inmitten eines Krieges lässt einen nicht los, zumal das Buch (anders geht das auch nicht) tragisch ausgeht. Das spricht für 5 Punkte.

Aber: Für mich ist „Abzählen“ trotz der beiden 13-jährigen Hauptfiguren kein Jugendroman, weil das Buch zu anspruchsvoll und schwer lesbar ist, in manchem kryptisch bleibt. Ehrlich gesagt kann ich mir nur wenige Jugendliche vorstellen, die dieses Buch von sich aus lesen werden. „Abzählen“ ist ein Roman, den man Jugendlichen fast nur mit Vermittlern (also z. B. im Deutschunterricht) präsentieren kann, und selbst hier wird das Buch einen schweren Stand haben (eine weitere Gemeinsamkeit mit „Woyzeck“). Es ist wohl kein Zufall, dass das Buch hauptsächlich in den Feuilletons von „Spiegel“ oder „Neue Zürcher Zeitung“ besprochen wurde …

So richtig anschlussfähig ist „Abzählen“ bei Jugendlichen jedenfalls nicht (von daher auch die 4 Punkte – es geht ja um Lesetipps für Jugendliche), auch wenn es durchaus ein hehres Ziel ist, in der Komfortzone aufgewachsenen Jugendlichen die Schrecken des Lebens in Kriegszeiten näherzubringen.

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(Ulf Cronenberg, 04.11.2013)

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