(rororo rotfuchs 2013, 252 Seiten)
Es gibt ganz unterschiedliche Gründe, warum man ein Buch auswählt – und manche davon sind herrlich irrational. „Schwesternlüge“ von Frank Maria Reifenberg hätte ich jedenfalls sicher nicht gelesen, wenn ich nur auf das Buchcover geguckt hätte. Das finde ich einfach nur schrecklich und kitschig, und es liefert einem vorab auch keinen Hinweis, worum es in dem Buch geht. Letzendlich würde ich „Schwesternlüge“ als Psychothriller bezeichnen – einen fundierteren Eindruck bekommt ihr, wenn ihr weiterlest …
Inhalt:
Mira verschwindet aus Echternach (Luxemburg), als sie erfährt, dass ihre ältere Schwester Jana in Berlin im Krankenhaus liegt. Seit einem Jahr ist Jana in Berlin, und die Schwestern, die früher recht vertraut miteinander waren, haben seitdem wenig Kontakt zueinander gehabt. Vorausgegangen war dem Wegzug von Jana ein Streit mit ihrem Großvater, bei dem die beiden Schwestern aufwachsen. Ihre Eltern sind, als sie noch kleine Kinder waren, bei einem Segelunfall ums Leben gekommen.
Jana liegt im künstlichen Koma, sie wurde von zwei vermummten Männern nachts an einer S-Bahn-Station brutal zusammengeschlagen. Mira quartiert sich, als sie in Berlin ist, im Zimmer ihrer Schwester ein, besuchte diese immer wieder im Krankenhaus, will aber auch herausfinden, was passiert ist. Nach und nach kommt sie darauf, dass Jana einige Geheimnisse vor ihr hatte.
So hat Jana anscheinend nachts leicht bekleidet in einer Bar getanzt – Mira will das, als sie es von der Polizei erfährt, nicht glauben, aber irgendwann kommt sie nicht darum herum, es zu akzeptieren. Über die Ermittlungen der Polizei hinaus versucht Mira selbst Nachforschungen über Janas Leben in Berlin anzustellen – sie bekommt dabei Hilfe von Woody, einem guten Freund ihrer Schwester, der Amerikaner ist. Mira wird Stück für Stück in eine heftige Geschichte hineingezogen, von der sie sich zunehmend überfordert fühlt.
Bewertung:
Thriller sind heute gerne nach einem bestimmten Schema aufgebaut: Die eigentlich Geschichte (in „Schwesternlüge“ in Ich-Form aus der Sicht Miras erzählt) wird immer wieder durch Rückblenden, andere Erzähler oder Tagebucheinträge unterbrochen und aufgelockert. Frank Maria Reifenberg hat das nicht anders gemacht. In diesem Fall sind es Tagebuchaufzeichnungen Janas, die Mira am Ende des Buches entdeckt und liest und die die Geschichte zwischendrin immer wieder ergänzen.
Anfangs hab ich mich ein wenig gegen diese etwas konformistische Erzählstruktur gewehrt (das ist ein bisschen Schema F), aber lange hat das nicht gedauert, denn „Schwesternlüge“ ist – das merkt man bald – ein gut und raffiniert geschriebener Thriller, der einen irgendwann richtig gefangen nimmt. Und das hat unterschiedliche Gründe.
Zum einen ist Mira, die nach und nach die Geheimnisse ihrer Schwester Jana aufdeckt, eine faszinierende Figur, der man nach kurzer Zeit folgen will, die man sympathisch findet und deren Verstörung man sehr gut nachvollziehen kann. Ähnlich interessant sind auch die anderen Figuren im Buch gezeichnet. Zum anderen wird die Spannung über das Buch hinweg sehr lange aufrechterhalten. Die kleinen Puzzleteilchen der Auflösung, die man ab und zu angeboten bekommt, helfen einem als Leser nicht so richtig weiter. Wie Mira tappt man beim Lesen lange im Dunkeln – und das bleibt letztendlich so, bis man zu den letzten 40 Seiten kommt. Der Spannungsbogen ist also wirklich gut gespannt, der Plot ist stimmig und hält den Leser bei Laune.
Dem entspricht auch der Schreibstil des Buches. Janas Tagebuchaufzeichnung sind verspielter als der restliche Text, sie bilden einerseits Janas schwierige Lebenssituation, andererseits aber auch ihre Unbedarfheit, Naivität und Kreativität ab. Sie sind nicht nur Füllsel, sondern lockern den restlichen Text auf – man empfindet sie nicht als Fremdkörper, sondern liest Janas Einstreuungen wirklich gerne. Miras ich-erzählende Texte halten die Geschichte dagegen am Laufen und sorgen für Spannung – auch weil sie treffsicher abgefasst sind.
Und der kleine Haken an dem Buch? Über das Ende, das die Auflösung liefert, bin ich doch ein wenig gestolpert. Keine dreißig Seiten sind es, auf denen die Geschichte beendet wird, und hier geht alles vergleichsweise schnell. Ich frage mich noch immer, ob ich das Ende für gelungen halte oder nicht. Die Antwort heißt: ja und nein. Einerseits wüsste ich nicht, wie man die Geschichte anders zu Ende bringen könnte, andererseits fand ich das Ende zu knapp gehalten. Es ist ein kleiner Fremdkörper in dem Buch, der wirkt, als hätte es Zeitdruck gegeben oder als hätte Frank Maria Reifenberg selbst nicht so ganz gewusst, wie er das Buch abschließen soll.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. Trotz meiner Bedenken bezüglich des Buchendes muss festgehalten werden, dass „Schwesterlüge“ ein gelungener (Psycho-)Thriller ist und damit unter den vielen Erscheinungen dieses Genres im Jugendbuch heraussticht. Die Mischung stimmt: „Schwesterlüge“ ist spannend, ist weder zu lang noch zu kurz und hat interessante, aber nicht überzeichnete Figuren, die einem als Leser durchaus plausibel erscheinen – vielleicht abgesehen davon, dass Janas Ausflug ins Rotlichtmilieu etwas fragwürdig begründet ist …
Lasst euch also von dem schnöden Cover nicht abschrecken, sondern versucht es mit diesem Buch, solltet ihr feinsinnige Thriller, die nicht nur Action bieten, mögen. Frank Maria Reifenberg setzt gekonnt auf dem Boom von Thrillern für Jugendliche auf und zeigt (vom Ende abgesehen), wie man das Genre intelligent füllen kann.
Trotzdem: „Landeplatz der Engel“ war für mich noch ein anderes Kaliber, und wenn ich mir von Frank Maria Reifenberg etwas wünschen dürfte, so wäre es ein Jugendroman, der mal wieder kein Thriller ist.
(Ulf Cronenberg, 26.03.2013)
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