(Heyne fliegt 2013, 222 Seiten)
Die Suche nach dem ersten wirklich guten Buch des Jahres geht in die nächste Runde. Klar, es gab schon ein paar ganz vielversprechende Titel, aber ein Jugendbuch ohne Makel und kleinere Schwächen war bisher noch nicht dabei.
Mit James Preller betritt ein weiterer Autor das Terrain der Jugendbücher. In den USA hat er schon viele Kinderbücher veröffentlicht, „Bevor du gehst“ ist jedoch sein erster Jugendroman. Und vielleicht handelt es sich ja dabei um ein rundum gelungenes Buch …
Inhalt:
Für Jude beginnt bald das letzte Jahr der Highschool, und in den Sommerferien sucht er einen Ferienjob, den er schließlich in einem Strandpavillon findet. Mit einem großen Team kümmert er sich um das Wohl der Strandbesucher, die dort von Brezeln über Hamburger bis hin zu Getränken alles kaufen können. Eine anstrengende Arbeit ist das, die für Jude jedoch bald etwas Besonderes ist, weil er sich in Becka, die an der Kasse arbeitet, verguckt.
Judes bisheriges Leben ist nicht unbedingt gradlinig verlaufen. Sein jüngere Schwester ist vor einigen Jahren im Swimmingpool der Familie ertrunken. Während Judes Vater sich ins Laufen flüchtet, um darüber hinwegzukommen, hängt seine Mutter depressiv im Haus herum. Immerhin hat sie das Trinken wieder aufgegeben. Doch die Alte ist sie noch immer nicht …
Becka sucht schon bald auch die Nähe zu Jude und die beiden unternehmen viel gemeinsam. Doch so ganz einfach ist alles nicht. Zum einen ist Jude schüchtern und hat Angst, den ersten Schritt in eine Beziehung zu machen. Sein bester Freund, Corey, versucht ihn immer wieder dazu zu überreden, es endlich mit Becka zu versuchen; doch Jude bleibt zurückhaltend. Zum anderen passiert eines Tages etwas. Als Jude Becka mit seinen Freunden zum Bowlen einlädt, sagt diese kurzfristig ab, weil sie sich nicht wohlfühle. Doch dann sieht er Becka am anderen Ende der Bowlinghalle, wie sie auf dem Schoß eines jungen Mannes sitzt. Jude ist am Boden zerstört und zieht sich von Becka zurück.
Bewertung:
„Bevor du gehst“ (Übersetzung: Friedrich Mader) beginnt eigentlich ganz anders, als man es angesichts der Inhaltszusammenfassung oben vermuten mag. Auf den ersten Seiten wird von einem Autounfall erzählt, bei dem die Fahrerin einem Tier ausweicht und infolgedessen in einen Baum fährt. Dass der Beifahrer ums Leben kommt, erfährt man auch, jedoch weiß man nicht, wer alles in dem Wagen gesessen war. Und so liest man das Buch von Beginn an mit einem unheilvollem Ereignis im Blick, man ahnt, dass Jude da in irgendetwas hineinstolpern wird, auch wenn sein Name bei dem Unfall nicht genannt wird.
Was sich nach diesem Einstieg entfaltet, ist jedoch erst einmal die Geschichte eines Jungen, der bald die Schule verlassen wird und bis dahin etwas ziellos im Leben herumgetigert ist. Beim Ferienjob lernt Jude Becka kennen und ist schon bald in sie verliebt. Es läuft darauf hinaus, dass die beiden irgendwann ein Paar sein dürften. Das klingt nicht unbedingt aufregend. Warum mich das Buch dennoch gepackt hat, war zum einen die Schilderung des Autounfalls am Anfang des Buches, die wie eine böse Vision über dem Leser schwebt (mit jeder Autofahrt im Buch wird man nervöser), zum anderen aber vor allem auch James Prellers Fähigkeit, das Leben Judes zu beschreiben.
Es ist eine eigenartige Mischung aus Nähe und Distanz, in die man in dem Buch eintaucht. Der personale Erzählstil, aber auch die immer wieder eingestreuten distanzierenden und feinsinnigen Betrachtungen führen dazu, dass man oft wie von außen auf die Geschichte blicken kann:
Irgendwas an ihrem Gesicht stimmte nicht. Vinnies Muter befand sich im Krieg gegen Zeit und Schwerkraft, sicherlich angefeuert durch Stanley Caninos behaartem Eifer und offenem Scheckbuch.
So wird z. B. die Mutter eines Freundes von Jude, die einige Schönheitsoperationen hinter sich hat, beschrieben (S. 83). Es gibt immer wieder Stellen, an denen man über James Prellers Beobachtungsgabe und Formulierungskunst staunen kann.
Auch wenn James Preller auf diese Art und Weise immer wieder ein wenig für Distanz sorgt: Man wird dennoch schon recht bald in die Geschichte hineingezogen. Jude ist eine sympathische Figur, der man Becka gönnt. Becka selbst ist wiederum eine interessante Frau mit ungewöhnlichen Sichtweisen, mit Stärken, aber auch Schwächen. Je mehr sich die beiden annähern, umso unruhiger wird man als Leser jedoch: Man hat ja den Autounfall im Kopf. Das führt dazu, dass das Glück Judes beim Lesen fast wehtut – denn man ahnt, dass es zu Ende gehen wird.
Und ja, so passiert es dann auch. Wer nun meint, das Buch ist voraussehbar, hat sich allerdings getäuscht, denn irgendwie kommt alles anders, als man es vermutet hat – das ging zumindest mir so.
Fazit:
5 von 5 Punkten. „Bevor du gehst“ ist eine Entdeckung und bisher das eindeutig beste Buch des Jahres, das allerdings noch nicht so alt ist. Die Geschichte um Jude hat mich von Anfang an fasziniert und in den Bann gezogen. Das liegt vor allem daran, dass James Preller einen eigenen Stil hat, der gekonnt zwischen Distanz und Nähe hin und her pendelt. Da ist nichts oberflächlich, sondern alles hat seine Tiefe. Witzige Dialoge (seien sie zwischen Becka und Jude oder zwischen Jude und seinen Freunden) und der raffinierte Aufbau der Geschichte sind die großen Pluspunkte dieses Romans. Ja, der Aufbau des Romans: Eigentlich wird vieles durch den am Anfang geschilderten Unfall vorwegenommen – aber das ist so geschickt gemacht, dass dadurch die Spannung nicht herausgenommen, sondern gesteigert wird.
Für mich stimmt an diesem Buch alles – oder sagen wir: fast alles (siehe das P. S. unten). „Bevor du stirbst“ kommt unaufgeregt daher, ist aber ein kleines Meisterwerk, bei dem es sich lohnen dürfte, es ein zweites Mal zu lesen.
(Ulf Cronenberg, 19.03.2013)
P. S.: Ein wenig Kritik muss dennoch sein. Das Zusammenspiel aus Übersetzung und Lektorat scheint mir an einigen Stellen nicht so ganz zu stimmen. So bin ich immer wieder über einzelne Formulierungen gestolpert. Oder um ein augenfälliges anderes, aber symptomatisches Beispiel zu nennen: Da ist von einem Kinderbuch Judes die Rede, das den Titel „Die hungrige Raupe“ trägt. Dass es sich dabei um „Die kleine Raupe Nimmersatt“ von Eric Carle (wie das Buch auf Deutsch heißt) handeln dürfte (englisch eben „The Very Hungry Catterpillar“), ist weder Übersetzer noch Lektorat aufgefallen …
P. P. S.: Eine kleine Warnung noch am Rande: Lest nicht den Klappentext auf der Innenseite des Buches, denn er nimmt vorweg, wer bei dem Autounfall ums Leben kommt, und das verringert deutlich den Lesegenuss. Und den ersten Reaktionen von anderen Lesern zufolge ist „Bevor du gehst“ wohl eher ein Buch für Jungen/Mädchen als für Mädchen/Frauen …
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