(cbj 2012, 430 Seiten)
Von Zoran Drvenkar war im Jugendbuchbereich lange nichts mehr zu lesen. Dabei habe ich ihn immer für einen der begnadetsten Jugendbuchautoren gehalten. „Touch the flame“ – fast vergessen; „Cengiz & Locke“ – da kann sich kaum einer noch dran erinnern; aber gute Bücher waren das (im Gegensatz zu meinen damaligen Rezensionen, die verdammt kurz waren), ebenso wie Drvenkars Buch mit Weihnachtsgeschichten: „Die Nacht, in der meine Schwester den Weihnachtsmann entführte“ – ein Klassiker, der gerade jetzt im Dezember nach wie vor zu empfehlen ist.
Die letzten Jahre hatte sich Zoran Drvenkar vor allem dem Erwachsenenkrimi und -thriller verschrieben, neue Jugendbücher gab es nicht mehr … Und nun? Ein neuer Jugendroman von ihm, ein Thriller, ist erschienen: ein ungewöhnliches Buch, bei dem ich mir die übliche Buchbesprechungsstruktur erspare, denn den Inhalt zusammenzufassen, ist bei diesem Buch wirklich schwer. Der Frage, worum es in dem Buch geht, will ich dennoch nicht ganz ausweichen.
Motte bekommt eines Abends eine seltsame anonyme Mail, in der steht, dass er am nächsten Tag nicht mehr leben wird. Ein Scherz? Leider nein, wie er am nächsten Morgen feststellt. Doch richtig tot ist er nicht, denn er kann sich selbst im Bett liegen sehen. Als er in den Spiegel schaut, erschrickt er, denn ihm wachsen an den Schulterblättern Flügel. Motte ist außer sich und versteht gar nichts mehr. Seltsam ist vor allem auch, dass Lars, sein bester Freund, ihn sehen und mit ihm sprechen kann. Dennoch: Motte liegt tot auf dem Bett. Daran gibt es keinen Zweifel.
Was dann folgt ist eine extrem komplexe Geschichte, in der man als Leser in andere Länder katapultiert wird und u. a. mitbekommt, wie ein Killerkommando acht Mädchen und ihre Kinderfrauen, die in einem geheimnisvollen Haus leben, umzubringen versucht. Doch der 10-jährigen Mona und ihrer Gouvernante gelingt die Flucht. Mona entdeckt dabei auch, dass eine besondere Gabe in ihr steckt: Sie kann durch Berührung in die Seele und Vergangenheit von Menschen schauen, hat gleichzeitig Flashbacks in eine lang zurückliegende Zeit, in der Königin Theia herrschte.
Doch damit nicht genug: Im Buch werden die Gebrüder Grimm eingeführt, man reist als Leser ins St. Petersburg des 19. Jahrhunderts, wo Knochenfunde von Engeln nicht nur für Aufregung, sondern für einiges mehr sorgen: Wissenschaftler machen damit wilde Experimente, denen viele Menschen zum Opfer fallen.
Zoran Drvenkar hat da ein recht vielschichtiges (man könnte sagen: abgedrehtes) Szenario entworfen: Die Geschichte ist komplex verschachtelt, kennt viele Zeit- und Erzählersprünge und ist anfangs schwer zu durchschauen. Trotz allem ist sie aber immer wieder auch packend und spannend. Als Leser ist man allerdings auch immer wieder verwirrt und hat das Gefühl, hinterher zu hinken, während man versucht, die Puzzle-Teilchen zusammen zu bekommen. Diesen Ritt durch all die Handlungspfade habe ich manchmal als zu viel des Guten empfunden; ein wenig unausgegoren hat das alles zudem immer wieder gewirkt.
Motte zum Beispiel verschwindet auf über 100 Seiten der Geschichte völlig aus dem Blickfeld des Lesers, um erst kurz vor Ende des Buches wieder aufzutauchen. Und etwas vor den Kopf gestoßen war ich auch, als ich auf der letzten Seite unten gelesen habe: „Ende vom ersten Buch“ – mir war nicht bewusst, dass „Der letzte Engel“ keine abgeschlossene Geschichte ist. Vorher hatte ich mich schon gewundert, wie Zoran Drvenkar die zahlreichen Handlungsstränge am Ende zusammenführen will …
Ein wenig symptomatisch ist die Formulierung „Ende vom ersten Buch“ für den gesamten Roman: Warum kein Genitiv („Ende des ersten Buchs“), sondern eine präpositionale Wendung? Eine gewisse sprachliche Schludrigkeit zieht sich immer wieder durch das Buch. Seltsam. Vor knapp 10 Jahren war Zoran Drvenkar für mich der Meister der sprachlichen Bilder und hat alles geschliffen auszudrücken vermocht. Seine Metaphern waren treffsicher, ungewöhnlich – einfach gut. Und was ist davon übriggeblieben? Leider wenig … Im Gegenteil: Vieles, was man zu lesen bekommt, erscheint abgeschmackt und etwas verschwätzt. Das sei an zwei Beispielen, zwei Kapitelanfängen, illustriert:
Kalter Schweiß bedeckt deinen ganzen Körper. Du bist der erste Mensch, der außerhalb einer Sauna aussieht, als wäre er in einer Sauna. (S. 354)
Manchmal regnet es, manchmal schüttet es und manchmal ergießt sich die Welt über einen und bringt die ganze Kanalisation mit sich. Jean-Luc erwartete Letzteres. Er wusste, dass sie kommen würden. (S. 324)
Sind so gute Bücher geschrieben? Für mich sind das Plattitüden, die nichts mit sprachlicher Treffsicherheit und Raffinesse zu tun haben, die zwar wortreich, aber insgesamt eher inhaltsleer und verplappert sind.
Fazit:
2-einhalb von 5 Punkten. Sagen wir es kurz: Ich bin enttäuscht von Zoran Drvenkars neuem Buch. Es mag Leser geben, die das Engelsthema, das dem Buch zugrunde liegt, befremdet – aber das ist es eigentlich nicht bei mir. Was mich an „Der letzte Engel“ stört, ist, dass es sprachlich so geschwätzig ist, einen feuilletonistischen Ton anschlägt und damit zu kaschieren versucht, dass dieses Buch nichts außer Unterhaltung zu bieten hat. Schade. Das war bei „Touch the flame“ und anderen frühen Büchern von Zoran Drvenkar anders.
Damit sei nichts gegen Unterhaltungsliteratur an sich gesagt – aber wenn sie gut ist, dann bietet sie eben doch ein bisschen mehr: psychologisch raffiniert konturierte Personen, überraschende Wendungen etc. Auch mit Letzterem kann „Der letzte Engel“ nicht wirklich dienen, denn das Buch springt von einer Unerwartetheit zur nächsten – der Dauerbeschuss an Unvorhergesehenem führt dazu, dass nichts mehr als Überraschung erlebt wird. Und die Figuren scheinen Karrikaturen zu sein, die einem Kostümfilm entstiegen sind: überzeichnet, aber leer und ohne Identifikationsangebot für den Leser.
„Der letzte Engel“ ist dennoch größtenteils spannend, oft ging es mir so, dass ich nicht zu lesen aufhören konnte, ab und zu gab es beim Lesen aber auch Hänger, wenn mich das Buch nicht wirklich gepackt hat. Je länger ich über das Buch nachdenke, je genauer ich hinschaue, desto mehr fallen mir jedoch dessen Schwächen auf. Um es kurz zu sagen: „Der letzte Engel“ ist größtenteils unterhaltsam, bietet darüber hinaus aber einfach kaum etwas.
Das klingt alles sehr negativ, und die Kritikpunkte sind sicher etwas überbetont worden. Aber zugleich betreffen sie Dinge, die nicht von der Hand zu weisen sind. Schade, kann ich da nur sagen, ich hätte gerne den „alten“ Zoran Drvenkar zurück …
(Ulf Cronenberg, 03.12.2012)
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P. S.: Was hat es zu bedeuten, dass man bei cbj das Cover nicht mal ohne den Aufkleber „Von dem Spiegel-Bestseller-Autor“ herunterladen kann? Ärgerlich fand ich das jedenfalls …
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Ich schlißse mich Ulf Cronenberg an: schludrige Sprache, die den beschriebenen Situationen und den erzählenden Personen nicht immer angepasst ist. Irgendwie scheint sich das Buch Teenagern anbiedern zu wollen, die jedoch meiner Erfahrung nach nicht schätzen, wenn man ihre Sprache kopiert.
Schade, ich hatte mich auf das neue Buch von Zoran Drvenkar gefreut.