(rororo rotfuchs 2012, 296 Seiten)
Das Thema Amoklauf taucht in den letzten Jahren immer wieder in der Jugendliteratur auf – angesichts von Ereignissen wie in Erfurt, Emsdetten oder Winnenden ist das mehr als verständlich. Das Thema beschäftigt Jugendliche. Eine differenzierte Auseinandersetzung damit tut Not – Politiker helfen mit reflexartigen Reaktionen wie einem Ballerspielverbot da nicht wirklich weiter.
Trotz der vielen Bücher über das Thema Amoklauf hat mich bisher kaum eines so richtig überzeugt. Die Erklärungsmuster in den Büchern bleiben meiner Meinung nach schablonenhaft und unvollständig. Ich war neugierig, ob T. A. Wegberg das besser gelingt.
Inhalt:
Jamies Bruder Dominik – auch Nick genannt – ist an seiner Schule in Viersen, einem Gymnasium, Amok gelaufen. 17 Personen wurden getötet, einige schweben lange in Lebensgefahr, Dominik wurde von einem Polizisten erschossen. Für Jamie und seine getrennt lebenden Eltern ist das alles ein Riesenschock. Weder den Einsatzkräften der Polizei, die ihr Haus auf den Kopf stellen, noch den ganzen Presseleuten, die sie verfolgen, und den pöbelnden Schaulustigen fühlen sie sich wirklich gewachsen.
Jamies Mutter beschließt einige Wochen später, mit ihrem neuen Freund nach Stuttgart zu ziehen – doch Jamie möchte lieber bei seinem Vater in Berlin leben. Es dauert lange, bis er sich damit durchsetzen kann.
An seiner neuen Schule soll niemand wissen, dass er der Bruder eines Amokläufers ist. Doch die Angst, erkannt zu werden, begleitet ihn und macht ihn unsicher den neuen Mitschülern und Lehrern gegenüber. Dementsprechend schwer tut Jamie sich, neue Freunde zu finden. Zunächst ist da nur Maxi, ein übergewichtiger Junge, der unter den Hänseleien von Mitschülern zu leiden hat.
Doch dann bekommt Jamie mit, dass sein Mitschüler Kenji sich wie er für Musik interessiert. Kenji spielt Bass und lädt Jamie, der in Viersen Gitarrist in einer Band war, zu einer Probe seiner Band ein. Das erste Mal seit Langem hat Jamie wieder ein Ziel vor Augen.
Bewertung:
Vielleicht gehe ich immer etwas überkritisch an Bücher heran, wenn es um das Thema Amoklauf geht – aber das liegt daran, dass ich mich psychologisch umfassend mit dem Thema beschäftigt habe. Auch bei „Klassenziel“ habe ich mir natürlich die Frage gestellt, ob hier die Hintergründe für die Tat plausibel und nachvollziehbar erklärt werden. So ganz zufrieden war ich in Bezug auf diesen Punkt nicht. Zwar werden typische Erklärungsmuster (fehlender Freundeskreis, Zugang zu Waffen, familiäre Probleme) aufgegriffen, aber insgesamt scheint mir die Situation, aus der Dominik heraus die Tat begeht, doch zu harmlos dargestellt zu sein. Klar, Jamies und Dominiks Eltern haben sich getrennt, aber dennoch sind es Eltern, die sich im Großen und Ganzen um die eigenen Kinder kümmern. Damit ist das größte Manko an dem Buch gleich zu Beginn benannt …
„Klassenziel“ wird konsequent in zwei Zeitebenen erzählt. Zum einen berichtet Jamie im Präsens, wie er in Berlin an der neuen Schule Fuß zu fassen versucht, zum anderen wird im Präteritum auf die Zeit kurz vor und nach dem Amoklauf von Dominik zurückgeschaut. Etwas irritiert, ja fast gestört hat mich anfangs, dass der Wechsel der Zeitebenen manchmal schon nach einer halben Seite (spätestens nach vier Seiten) kommt. Das Buch wirkt dadurch anfangs etwas fahrig. Doch nach einiger Zeit hat man sich daran gewöhnt und versteht später auch, dass so geschickt Vorgeschichte und Gegenwart miteinander verzahnt werden.
T. A. Wegberg tritt in seiner Ich-Erzählung völlig hinter die Hauptfigur Jamie zurück, und letztendlich gelingt ihm das recht glaubwürdig. „Klassenziel“ ist kein literarisch anspruchsvoller Text – seine Stärke liegt vielmehr darin, dass die Krisensituation eines Jungen sehr authentisch aus dessen Sicht eingefangen wird.
Das ist auch die Stärke des Jugendromans: dass Jamies Gefühle und Bewältigungsversuch eindrücklich beschrieben werden. Jamie ist nach der unerwarteten Tat seines Bruders verstört, versucht damit zurechtzukommen, ist aber lange orientierungslos. Er fühlt sich verantwortlich für seine Eltern, denen es nicht gut geht, merkt aber, dass er damit überfordert ist. Außerdem stellt er sich die Frage, warum er in Bezug auf Dominik nicht bemerkt hat, was dieser vorhat. Anzeichen gab es einige, aber weder Jamie noch seine Eltern haben sie wahrgenommen.
Am Ende schafft es Jamie, die Tat seines Bruders einigermaßen zu verdauen – ein anderer Schluss kommt für ein Buch, das man Jugendlichen zum Lesen geben will, letztendlich auch kaum in Frage. Das ist vielleicht etwas vorhersehbar, aber dennoch stimmig.
Fazit:
4 von 5 Punkten. „Klassenziel“ ist ein Buch, das mich der Erzählweise wegen anfangs etwas irritiert hat, in das ich dann aber nach einiger Zeit eingetaucht bin. Das liegt vor allem an der Hauptfigur Jamie, einem Jungen, den T. A. Wegberg recht wirklichkeitsnah und sympathisch darzustellen vermag.
Die Stärken (und auch der Schwerpunkt) des Buches liegen eindeutig auf der Beschreibung, wie ein Junge eine Krisensituation wegzustecken versucht, weniger darin, dass der Amoklauf plausibel erklärt wird. Bei Letzterem schludert das Buch meiner Meinung nach ein bisschen – doch das mögen kritische Anmerkungen eines Erwachsenen sein und wird von Jugendliche möglicherweise anders gesehen. Sei’s drum. Empfehlen kann man dieses Buch jugendlichen Lesern dennoch alles in allem …
(Ulf Cronenberg, 12.07.2012)
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Guten Tag Herr Cronenberg!
Schön, dass Sie dieses Buch besprochen haben. Ich habe es vor Kurzem auch zu Ende gelesen, kann Ihrer Kritik aber nur zum Teil zustimmen, und deshalb möchte hier doch noch meinen Senf dazu geben. 🙂
Denn ich denke, es ging dem Autor nicht unbedingt darum zu erklären, weshalb Dominik den Amoklauf verübt hat. Sonst hätte er ja alles aus dessen Perspektive erzählt. Aber er hat die Sicht des Bruders beschrieben und ich finde, das hat er sehr plausibel und authentisch hinbekommen. Jamie ist eben ein echter Sunnyboy, der verständlicherweise keine Lust hat, sich ständig um seinen Bruder zu kümmern, welcher ihn eh nicht an sich ranlässt. Wie soll er da also genau wissen, was Dominik zu dieser Tat bewogen hat? Aber wie Jamie mit diesem Ereignis umgeht und was das mit ihm macht, das war für mich sehr nachvollziehber.
Die einzige Kritik, die ich habe bzw. was mich etwas hat stutzen lassen, ist, dass Jamie sehr reflektiert und wohl überlegt geschildert wird. Ich weiß nicht, ob Jungen in dem Alter wirklich so sind und denken. Aber gut, wenn man einmal so etwas Schreckliches erlebt hat, fängt man wohl auch an, gründlicher über alles nachzudenken.
Jedenfalls habe ich das Buch sehr gerne gelesen, obwohl ich beim Thema Amoklauf immer eher zögere, weil mich das doch immer sehr aufwühlt. Dass die Episoden an Jamies neuer Schule und mit Kenji abwechselnd dazwischen kamen, war da wirklich gut.
Hallo Elisabeth,
im Wesentlichen sind wir uns da ja einig. Ist vielleicht etwas penibel, wenn ich auf das Nebenthema „Wird der Amoklauf nachvollziehbar begründet?“ genauer gucke. Mir ist klar, dass das nicht das Hauptthema des Jugendromans ist. Aber dennoch hat das für mich auch eine gewisse Relevanz.
Viele Grüße, Ulf
Ich fand das Buch echt interessant und stimme Elisabeth zu.
ich fand das Buch sehr gut, und es ist auch sehr spannend, aber traurig … 🙁
LG, Anna 🙂
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