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Buchbesprechung: Marit Kaldhol „Allein unter Schildkröten“

Cover Marit KaldholLesealter 15+(Mixtvision-Verlag 2011, 134 Seiten)

„Allein unter Schildkröten“ – ein seltsamer Titel, der auffällt, unter dem man sich aber wenig vorstellen kann. Für den Jugendroman hat die Schriftstellerin den Literaturpreis des norwegischen Kultusministeriums bekommen – etwas Besonderes darf man von diesem Buch also schon erwarten … Das Thema, da sei schon mal gesagt, ist kein einfaches: Es geht um den Selbstmord eines Jungen und wie Freunde und Verwandte damit zurechtkommen.

Inhalt:

Mikke steht kurz vor dem Abitur. Seine Eltern leben schon seit vielen Jahren getrennt, sein Mutter hat jedoch einen neuen Freund, mit dem Mikke gut zurechtkommt. Befreundet ist Mikke auch mit Sverre, einem Jungen, der am Down-Syndrom leidet und den er früher betreut hat. Mit Sverre trifft Mikke sich immer wieder, um etwas zu unternehmen.

Mikke führt Tagebuch und darin erfährt man, wie es ihm geht: Nachts kann er oft nicht schlafen und ist wach. Zu Tieren fühlte er sich schon als kleines Kind hingezogen, und irgendwann ist für ihn auch klar, dass er nach dem Abitur Biologie studieren möchte. Siri ist außerdem Mikkes erste Freundin. Doch nach einiger Zeit trennt er sich wieder von ihr, so ganz nachvollziehbar ist Mikke wohl selbst nicht, warum er die Freundschaft beendet.

Dann fahren seine Mutter und ihr neuer Partner Idar zu zweit nach Chile, um Urlaub zu machen. Mikke bleibt alleine zu Hause. Als die beiden zurückkommen, finden sie Mikke tot in seinem Zimmer vor: Er hat Selbstmord begangen – ein großer und gänzlich unerwarteter Schock, nicht nur für sie.

Bewertung:

Tja, es tut mir leid, dass ich das mit dem Selbstmord in der Buchbesprechung schon vorwegnehmen muss – aber sonst lässt sich über „Allein unter Schildkröten“ eigentlich keine Buchbesprechung schreiben. Da ist es von Vorteil, wenn man über das Buch noch nichts erfahren hat. Denn dass Mikke sich umbringt, erwartet man als Leser, nachdem man gut 60 Seiten sein Tagebuch (das mit dem Satz „Jetzt schreib ich nicht mehr“ endet) gelesen hat, eigentlich nicht. Klar ist in Mikkes Aufzeichnungen von Traurigkeit und Einsamkeit die Rede, Mikke handelt manchmal auch etwas komisch (wenn er sich z. B. ohne richtigen Grund von Siri trennt) – aber eine so drängende Aussichtlosigkeit wird hier nicht dargestellt.

Wenn man etwas länger über Mikkes Tagebuch nachdenkt, dann erkennt man darin allerdings typische Kennzeichen für Depressionen: Mikke kann oft nicht schlafen, grübelt sehr viel, fühlt sich alleine, zieht sich von anderen zurück … Dennoch: Das wird fast etwas harmlos und zu unaufgeregt dargestellt.

Die zweite Hälfte des Buches geht es dann darum, wie vor allem Mikkes Mutter mit dem Tod ihres Sohnes zurechtkommt. Sie erinnert sich an die Zeit, die sie mit ihrem Sohn verbracht hat, auch daran, dass Mikke seinem Vater (der wohl auch phasenweise depressiv war) in vielem ähnlich war. Die Aufzeichnungen von Mikkes Mutter sind wesentlich poetischer als Mikkes vergleichsweise wortkargen Texte verfasst. Sehr assoziativ und bildreich, ja anspruchsvoll erzählt Mikkes Mutter von ihrer Trauer und ihren Erinnerungen.

Die letzten knapp 20 Seiten des Buchs werden dann Trauerbriefe von Mikkes Vater und einigen Freunden wiedergegeben. Mikkes Vater bereut, dass er sich zu wenig um seinen Sohn gekümmert hat, schreibt, dass er ihn eigentlich kaum kannte. Und in einem ähnlichen Tenor sind auch die Briefe von Idar, Siri oder Tore gehalten. Nur Sverre, der Junge mit dem Down-Syndrom, schreibt kurz, aber weniger reuevoll und traurig – ein guter Abschluss für das Buch.

Ich habe lange über „Allein unter Schildkröten“ nachgedacht. Es ist ein gutes Buch, aber vielleicht eines, das zu sehr die Trauer als Reaktion auf einen Selbstmord betont. Dass Siri, die verlassene Freundin, nicht auch wütend auf Mikke ist, dass auch die Eltern neben der Trauer so etwas wie Wut, dass Mikke ihnen das angetan hat, empfinden – all das zeigt, dass das Buch ein ganz klein wenig zu eindimensional in Bezug auf die Verarbeitung des Selbstmords angelegt ist. Und vielleicht hätte es am Ende nicht so vieler Abschiedsbriefe bedarft. Auf mich hätte das Buch eindrucksvoller gewirkt, wenn nach Mikkes Tagebuch nur noch seine Mutter zu Wort gekommen wäre.

Fazit:

4 von 5 Punkten. „Allein unter Schildkröten“ ist ein poetisches Buch, das sehr einfühlsam davon erzählt, dass ein Junge sich umbringt. Der Selbstmord wird nur angedeutet und nicht geschildert – das ist auch der Kniff des Buchs, bei dem man anfangs ein bisschen über den eher lakonischen Stil von Mikkes Tagebuch verwundert ist. Marit Kaldhols Buch regt zum Nachdenken an und eignet sich somit auch als Schullektüre.

Trotz aller Begeisterung bleibt bei mir nach Lesen des Buchs ein kleiner Rest Unbehagen zurück. Ist das Buch nicht fast etwas zu korrekt? Alle Menschen sind nur einfühlsam Trauernde, niemand regt sich über Mikkes Selbstmord und Rückzug auf – alle sind verständnisvoll und betonen, dass sie Mikkes Tat nicht verstehen, sind selbstkritisch, meinen, dass sie zu wenig auf den Jungen geachtet haben. Das ist mir trotz des Selbstmords ein wenig zu viel heile Welt, und es widerspricht auch ein wenig dem, was man psychologisch über Phasen der Trauer weiß.

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(Ulf Cronenberg, 11.02.2011)

Lektüretipp für Lehrer!

„Allein unter Schildkröten“ eignet sich nicht nur für den Deutschunterricht, sondern auch für die Fächer Ethik und Religion. Gerade um an einer Schule mit einer Krise, wenn ein Schüler Selbstmord begangen hat, zurechtzukommen, um mit Schülern darüber ins Gespräch zu kommen, eignet sich Marit Kaldhols einfühlsames Buch sehr gut. Als Schullektüre geignet ist das Buch vor allem auch, weil es den Selbstmord in keinster Weise heroisiert oder als vorbildlich darstellt. Stattdessen wird die Auseinandersetzung damit, warum Menschen ihrem Leben ein Ende setzen, gefördert.

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Kommentare (2)

  1. Eva

    Ein unglaublich tolles Buch, ich bin absulot begeistert und kann es uneingeschränkt weiterempfehlen. Für mich ist die Trauer genau richtig, denn nicht jedes Buch muss einen mit einem guten Gefühl zurücklassen. Ich finde genau dieses wenig Positive regt einen zum Nachdenken an.
    Wie gesagt: Top!

    Antworten
  2. Pingback: Buchbesprechung: Marit Kaldhol „Zweet“ | Jugendbuchtipps.de

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