(cbj-Verlag 2011, 215 Seiten)
„Sieben Minuten nach Mitternacht“ hat eine ganz besondere Vorgeschichte: Siobhan Dowd ist im Jahr 2007 an Krebs gestorben, und außer vier hochgelobten Jugendromanen hat sie ein Exposé zu einem neuen Buch hinterlassen, das sie jedoch selbst nicht mehr fertigstellen konnte. Lediglich ein paar Seiten hat die englische Autorin vor ihrem Tod scheiben können. Und was macht man mit einer guten Romanidee? Genau: Sie an jemand anderen weitergeben. Gefragt wurde schließlich Patrick Ness, ob er sich vorstellen könne, das Buch fertig zu schreiben – eine nicht ganz einfache Aufgabe, der sich der inzwischen in England lebende amerikanische Autor nach einigem Zögern gestellt hat. Und so ist „Sieben Minuten nach Mitternacht“ schließlich erschienen …
Inhalt:
Conors Mutter hat Krebs und ist zwar zu Hause, wegen der chemotherapeutischen Behandlungen geht es ihr jedoch nicht gerade gut. Sie ist schwach auf den Beinen und ständig müde. Dennoch bemüht sie sich, Conor gegenüber tapfer zu sein, um ihn nicht zu sehr zu ängstigen. Doch so richtig klappt das nicht, denn Conor wird fast jede Nacht von einem schlimmen Albtraum heimgesucht, der etwas mit seiner Mutter zu tun hat.
Dann passiert etwas Seltsames: Als Conor eines Nachts nicht einschlafen kann, erscheint vor seinem Fenster ein großes Monster, das aus der großen Eibe vor dem Haus erwächst. Es ist 0:07 Uhr, wie er auf dem Display seines Weckers sehen kann.
Das Monster ist furchterregend, doch seltsamerweise scheint sich Conor nicht vor ihm zu fürchten. Drei Geschichten will es Conor erzählen, bevor er selbst dem Monster eine Geschichte, nämlich seine eigene Geschichte erzählen soll. Dafür sei es gekommen, meint das Monster ihm gegenüber. Eigentlich will Conor die Geschichten gar nicht hören, aber das Monster lässt nicht locker.
Dass die Geschichten etwas mit ihm und seinem momentanen Leben zu tun haben, bemerkt Conor zunächst nicht. Er schiebt alles weg, was ihm Sorgen macht, will es nicht wahrhaben. Am Morgen nach dem ersten Erscheinen des Monsters fragt er sich, ob er das alles eigentlich nur geträumt hat. Es kommt ihm unwirklich vor, dass ihm ein Monster erschienen ist. Doch seltsam ist, dass lauter Eibennadeln auf dem Boden seines Zimmers liegen. Mehrmals kehrt das Monster noch zurück – immer um 7 nach 12 Uhr –, und zweimal erzählt es eine weitere Geschichte …
Bewertung:
„Sieben Minuten nach Mitternacht“ (Übersetzung von Bettina Abarbanell) habe ich einige Zeit auf meinem Lesestapel liegen gelassen, und der Grund hierfür war vor allem das zwar kunstvoll gestaltete, aber auf mich nicht ansprechend wirkende Buchcover. Es sieht, finde ich, etwas altmodisch und hausbacken, eher wie das Cover für eine Kindergeschichte aus. Doch schließlich hat das Buch doch noch seinen Weg zu mir gefunden, und nun hinterher kann ich nur feststellen, dass es sich wirklich lohnt, „Sieben Minuten nach Mitternacht“ zu lesen. Das ist ein ganz besonderes Buch.
Bücher, in denen Kinder oder Jugendliche den Tod eines Elternteils verkraften müssen, gibt es viele. Doch Patrick Ness hat es – auf Grundlage von Siobhan Dowds Idee – geschafft, etwas ganz Eigenes aus dem Thema zu machen. Vielleicht hört sich die Idee mit dem Monster, das Geschichten erzählt, zunächst etwas seltsam an – aber das ist sie ganz und gar nicht. Im Gegenteil:
Das Monster steht zwar für etwas Furchterregendes, es symbolisert aber letztendlich die verdrängten Ängste und Befürchtungen von Conor und hilft ihm dabei, sich ihnen zu stellen. Die belebte Eiche ist kein Monster, das sinnlosen Schrecken verbreitet, sondern ein größtenteils sympathisches und letztendlich wohlwollendes Monster.
Es sind vor allem drei Dinge, die mich an Patrick Ness‘ und Siobhan Dowds Buch so begeistert haben: Zum einen schildert es sehr subtil und einfühlsam, welche Auswirkungen die Krebserkrankung von Conors Mutter auf den Jungen hat. Er hat Angst vor ihrem Tod, will sich das aber nicht eingestehen; er kann es nicht ausstehen, dass er in der Schule von den Erwachsenen immer mitleidig angeschaut wird, während ihn seine Mitschüler hänseln und triezen. Beeindruckend ist zum anderen, dass die Ängste Conors dabei größtenteils nicht vordergründig, sondern oft auf einer zweiten, tieferen und mythischen Ebene dargestellt werden. Das gibt dem Buch eine besondere Tiefe.
Schließlich sind noch die Illustrationen von Jim Kay zu nennen. Die schwarzweißen Zeichnungen bzw. Drucke im Buch unterstreichen das Unheimliche der Geschichte. Sie umrahmen den Text vor allem immer, wenn das Monster auftritt. Ab und zu findet man auch kunstvolle Doppelseiten ohne Text. All das lässt das Buch zu einem Gesamtkunstwerk werden.
Fazit:
5 von 5 Punkten. „Sieben Minuten bis Mitternacht“ ist ein tolles, ein aufsehenerregendes Buch, das von einem Jungen erzählt, dessen Mutter stirbt. Conors Gefühle – von Hoffnungslosigkeit über Trauer bis hin zu Wut darauf, dass seine Mutter ihn zurücklassen wird – werden so intensiv wie in keinem anderen mir bekannten Kinder-/Jugendroman dargestellt; und habe ich sonst oft etwas gegen eine zweite mystische Ebene, so hat mich das hier überhaupt nicht gestört. Der Kniff mit dem Monster funktioniert einfach zu gut … Und so kann man sich weder der Geschichte noch den Illustrationen entziehen.
Man weiß nicht, was aus dem Buch geworden wäre, hätte Siobhan Dowd es zu Ende schreiben können, aber Patrick Ness hat mit Gespür und sicherem Händchen etwas Einzigartiges aus Dowds Idee gemacht. Da gibt es wirklich nichts zu bekritteln … „Sieben Minuten nach Mitternacht ist für mich eines der besten Bücher, die dieses Jahr erschienen sind.
(Ulf Cronenberg, 25.11.2011)
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Auch ich würde dem Buch uneingeschränkt 5 Punkte geben. Es hat mich sehr berührt.
Wahnsinn. Ein unglaublich starkes, berührendes Buch. Ist das ein Jugendbuch?
Ich hoffe, es werden viele Jugendliche lesen. Aber darüber hinaus ist es Pflichlektüre für alle, die im Hospizwesen tätig sind, für Lehrer, für … alle.
Ganz ein heißer Tipp für den Deutschen Jugendliteraturpreis.
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Ich lese das Buch gerade in der Schule für ein Lesetagebuch und war auf der Suche nach einer Kurzzusammenfassung … Traurig, als ich erfahren habe, dass in diesem Buch die Mutter stirbt – zumindesten habe ich das so verstanden. Ich habe Angst, dass ich mittem im Unterricht zu heulen anfange, weil das Buch doch sehr berührende Gefühle hervorruft. Muss man trotzdem mal gelesen haben!
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Eine sehr geglückte Symbiose von Text und graphischer Gestaltung. Eine ausführliche Besprechung des Buches findet sich in meiner aktuellen Veröffentlichung:
Zellerhoff, Rita (2016): Komplexe sprachliche Strukturen in der Jugendliteratur. Aufgezeigt an Beispielen preisgekrönter Werke des Deutschen Jugendliteraturpreises, Frankfurt/M.; Peter Lang Edition, Paperback oder E-Book