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Buchbesprechung: Els Beerten „Als gäbe es einen Himmel“

Cover Els BeertenLesealter 14+(Fischer-Verlag 2011, 624 Seiten)

Anfang 2005 erschien der letzte Roman der Belgierin Els Beerten auf Deutsch bei Sauerländer (inzwischen bei Fischer als Taschenbuch aufgelegt): „Lauf um dein Leben“. Auch wenn mir die Geschichte über ein Mädchen, das mit Laufen über einen Unfall hinwegzukommen versucht, anfangs nicht so ganz zusagte, am Ende habe ich das Buch begeistert aus der Hand gelegt. Gut sechs Jahre hat es nun gedauert, bis es einen neuen Roman von Els Beerten auf Deutsch gab, und „Als gäbe es einen Himmel“ ist ein dicker Schmöker geworden, der mich – das sei vorweg gesagt – wieder begeistert hat.

Inhalt:

Auch Belgien ist während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen besetzt, und wie überall im besetzten Ausland gibt es auch dort Kollaborateure, die mit den Deutschen gemeinsame Sache machen, aktive Widerständler und Menschen, die versuchen, sich über Wasser zu halten, ohne allzu sehr auffallen zu wollen. Familie Claessen gehört eher zur letzteren Gruppe, auch wenn der Vater von Jef, Renée und Remi sowie die Mutter ganz klar etwas gegen die Deutschen und ihren Krieg haben.

Remi als Jüngster in der Familie bekommt davon wenig mit – dazu ist er noch zu klein und wird von der Familie zu behüten versucht. Renée und vor allem Jef als ältester, schon fast erwachsener Sohn dagegen spüren fast täglich, wie es in dem kleinen Dorf, in dem sie leben, rumort.

Probleme gibt es, als Jef und Ward, Jefs bester Freund, vom Geschichtslehrer der Schule sowie dem neuen Pfarrer aufgehetzt werden. Die beiden suchen Jugendliche, die auf der Seite Deutschlands gegen die Russen kämpfen wollen, und malen dafür Horrorszenarien aus: Belgien und seine christliche Tradition seien von den Russen bedroht, man müsse – notfalls mit den Deutschen gemeinsam – verhindern, dass Russland den Krieg gewinne.

Bei Jef und Ward stoßen sie auf offene Ohren – beide wollen sich für eine flämische Spezialarmee, die an der Ostfront auf der Seite der Deutschen kämpft, verpflichten lassen. Als Jefs Eltern davon Wind bekommen, gehen sie massiv dagegen vor. Jef bleibt schließlich zu Hause, doch Ward zieht in den Krieg. Davon können ihn auch nicht dessen Mutter sowie Renée, die in ihn verliebt ist, abhalten …

Bewertung:

Angesichts der gut 600 Seiten ist das nur ein kleiner Ausschnitt der Handlung, den ich hier zusammengefasst habe. „Als gäbe es einen Himmel“ (Übersetzung: Mirjam Pressler) ist ein vielschichtiges Buch, das sich nicht mal so eben in ein paar Absätzen erfassen lässt. Dass man für das Schreiben dieses Romans einige Zeit braucht, liegt auf der Hand, und deswegen war es um Els Beerten wohl auch längere Zeit etwas still.

Um mit einem kleinen Kritikpunkt, den ich habe, anzufangen: Das wirklich Einzige, was ich an „Als gäbe es einen Himmel“ etwas fragwürdig fand, war dessen Schluss. Was Jef am Ende tut, um aus einer selbst verschuldeten, brenzligen Situation zu kommen (mehr will ich nicht verraten), scheint mir leicht überkonstruiert. Doch ansonsten kann ich vor Els Beerten für diesen großartigen Roman nur meinen Hut ziehen. „Als gäbe es einen Himmel“ ist intelligentes, ein wahnsinnig gut geschriebenes Buch.

Einfach macht einem Els Beerten den Einstieg nicht – da braucht man schon etwas Geduld. Das Buch wird konsequent mehrperspektivisch erzählt, und zwar immer abwechselnd von Remi, Renée, Jef und Ward. Der Erzähler, der alle paar Seiten wechselt, wird dabei nie vorab genannt, man muss ihn sich selbst erschließen, und oft dauert es fast eine Seite, bis man dahinter gekommen ist, wer nun spricht. Vor allem auf den ersten hundert Seiten ist das ziemlich anstrengend und erfordert volle Konzentration, aber wenn man die Figuren und ihre Geschichte erst mal kennt, dann weiß man dieses kunstvolle Ineinandergreifen der Erzählstränge zu schätzen.

Virtuos ist auch der Aufbau des Romans, der mehrere erzählte Zeiten kennt. Manches hat sich Anfang der 40-er Jahre zugetragen, anderes passiert erst nach dem 2. Weltkrieg. Immerhin ist meist kenntlich gemacht, wenn ein Zeitsprung vorgenommen wird, weil dann die Jahreszahl vor dem entsprechenden Kapitel steht.

Mal abgesehen von diesem komplexen, aber gekonnten Aufbau lebt „Als gäbe es einen Himmel“ vor allem von seinen Figuren. Es scheint, als könnte Els Beerten in die Seelen ihrer Protagonisten schauen, und sehr schön werden auch die verschiedenen Charaktere mit all ihren Sehnsüchten, Hoffnungen und Ängsten herausgearbeitet. Der kindliche Remi beschwert sich immer darüber, dass die Erwachsenen ihn wie ein Kind behandeln und ihm nichts von dem erzählen, was vorgeht. Renée dagegen geht taper durchs Leben, bei Jef bekommt man schon bald mit, dass er eine große Last mit sich herumträgt. Doch worum genau es geht, das erfährt man erst kurz vor Ende des Romans, der auf den letzten 100 Seiten fast zum Krimi wird und einiges an Tempo zulegt.

Fazit:

5 von 5 Punkten. Els Beerten ist mit „Als gäbe es einen Himmel“ ein Roman gelungen, der sich hinter den großen Büchern der niederländischen und flämischen Literatur über den Zweiten Weltkrieg nicht zu verstecken braucht. Es ist schon etwas her, dass ich die entsprechenden Bücher von Harry Mulisch („Das Attentat“ oder „Die Entdeckung des Himmels“ – ist die Ähnlichkeit im Titel Zufall?) oder anderen Autoren gelesen habe, aber in meiner Erinnerung kann Els Beerten mit deren Romanen durchaus mithalten.

„Als gäbe es einen Himmel“ eröffnet dem Leser einen kleinen Kosmos und kann dabei durchaus auch als Erwachsenenroman durchgehen. Jugendliche Leser, die das Buch angehen wollen, brauchen etwas Leseerfahrung und Durchhaltevermögen, man muss mit Konzentration und Ausdauer an das Werk herangehen, wird dann aber auch dafür belohnt. Es ist mutig vom Fischer-Verlag, Els Beertens Roman in einer Jugendbuchreihe zu veröffentlichen – aber warum nicht?

Das Lesen von „Als gäbe es einen Himmel“ lohnt sich in jedem Fall. Remi, Renée, Jef und Ward sind einem schon bald ans Herz gewachsen, auch wenn vor allem die letzten beiden eher tragische Figuren sind. Man taucht in diese Geschichte ein und kann sich ihr dann nicht mehr entziehen. Alles in allem bleibt nur Staunen, was Els Beerten da zustande gebracht hat … Els Beertenss Roman ist zweifelsohne große Literatur.

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(Ulf Cronenberg, 09.09.2011)

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Kommentare (0)

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  3. Christoph Enzinger

    Ein Buch, das man sich verdienen muss: 615 Seiten, ständig wechselnder Ich-Erzähler, verschiedene Zeitebenen. Aber was für ein Buch! Els Beerten ist damit etwas gelungen, mit dem man weltberühmt werden könnte. Das Buch ist übrigens kongenial übersetzt von Mirjam Pressler. Es ist zweimal für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, in der Sparte „Jugendbuch“ und bei der Jugendjury. Und wenn es nach mir ginge, dann wäre es das erste Buch in der Geschichte des Deutschen Jugendbuchpreises, das in beiden Sparten gewönne.

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