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Buchbesprechung: Melvin Burgess „Nicholas Dane“

Cover Melvin BurgessLesealter 14+(Carlsen-Verlag 2011, 443 Seiten)

Melvin Burgess ist bekannt für Bücher zu brisanten Themen – und auch in seinem neuen Buch hat er sich an etwas sehr Aktuelles gewagt. Vor ca. einem Jahr wurden zahlreiche Fälle von sexuellem Missbrauch in Internaten in den Medien aufgedeckt. Das passende Jugendbuch dazu heißt „Nicholas Dane“, auch wenn es hierin nicht um ein Internat, sondern um ein Heim für schwererziehbare Jungen geht.

Inhalt:

Nicholas lebt bei seiner Mutter Muriel und hat keinen Kontakt zu seinem Vater. Dass seine Mutter eine wilde Vergangenheit mit Drogen hinter sich hat, weiß der Junge nicht – auch weil sie sich inzwischen gefangen hat und ihren Schulabschluss nachholt. Doch dann kommt Nicholas eines Nachmittags nach Hause und seine Mutter hat sich, nachdem sie von einem Dealer Heroin bekommen hat, einen goldenen Schuss gesetzt. Jenny, die Freundin der Mutter, will Nicholas aufnehmen, doch das Jugendamt spricht sich dagegen aus. Und so kommt Nicholas nach Meadow Hill.

Das Heim für Schwererziehbare hat vordergründig einen guten Ruf, aber eigentlich herrscht in der Anstalt nichts anderes als Gewalt, die von den Pflegern ausgeht und unter den Jugendlichen zur Tagesordnung gehört. Nur Tony Creal, der stellvertretende Heimleiter, scheint in Ordnung zu sein. Ausgewählte Jugendliche lädt er zu sich nach Hause ein. So auch irgendwann Nicholas, der jedoch blind dafür zu sein scheint, was sich hinter der Fassade des stellvertretenden Heimleiters verbirgt.

Als Tony Creal ihn eines Abends sexuell missbraucht, wird Nicholas klar, was die anderen mit ihren Anspielungen über Tony Creal gemeint haben. Nicholas beginnt sich zu wehren, wird jedoch nur noch mehr von den Erziehern und dem Heimleiter schikaniert.

Bewertung:

„Nicholas Dane“ (Übersetzung: Heike Brandt) erzählt eine heftige Geschichte, in der man nach ca. 20 Seiten ziemlich unvermittelt landet. Da wird auf den ersten Buchseiten erst ein wenig plätschernd erzählt, wie Nicholas‘ Mutter gut gelaunt ihren faulen Sohn aus dem Bett jagt, damit er in die Schule geht. Alles scheint in Ordnung, und ein paar Seiten später ist Muriel tot, weil sie sich, nachdem Nicholas das Haus verlassen hat, eine tödliche Dosis Heroin gespritzt hat. Völlig unerwartet trifft einen das als Leser.

Letztendlich ist das nur der Auftakt zum schrecklichen Leben, in das Nicholas auf einmal hineinkatapultiert wird. Gewalt, Misshandlungen und sexueller Missbrauch gehören zum Alltag in Meadow Hill, werden aber von allen gedeckt. Melvin Burgess berichtet davon seltsam lakonisch und distanziert. Das Lesen all dieser Dinge tut nicht wirklich weh, einerseits wird vieles fast berichtmäßig zusammengefasst, andererseits schaut der Erzähler immer wieder in die Abgründe der Seele verschiedener Figuren. Als Leser bekommt man so mit, was in den Personen des Buches vorgeht, warum sie so sind, wie sie sind. Diese erzählerische Distanz bleibt auch beim Leser erhalten.

Manchmal ist „Nicholas Dane“ allerdings ziemlich altklug, und man bekommt mitunter auch Fragwürdiges zu lesen (S. 187):

Es heißt, Opfer von Vergewaltigungen würden ihr Leben zweiteilen – in vorher und nachher. Vergewaltigung ist etwas, das einen Menschen in einen anderen verwandelt, ein furchloser wird furchtsam, ein gelassener nervös und ein Held zum Opfer. Wer darüber hinwegkommen will, muss die Angst verlieren – muss aufhören, ein Opfer zu sein, und wieder er oder sie selbst sein.

Sollte man so über Vergewaltigungen schreiben? Ist das nicht doch etwas sehr verklärend? Es sind nicht viele Stellen, an denen man solche Passagen findet – aber sie kommen vor … Und sie sind für mich ein Zeichen dafür, dass Melvin Burgess das Thema sexuellen Missbrauch doch ein bisschen auf die leichte Schulter nimmt. Das ist sicher keine Absicht, sondern eine Folge dieser Art zu schreiben.

Die erste Hälfte des Romans wirkt außerdem überladen. Irgendwie ahnt man schon, worauf alles hinausläuft: Die Mutter ist tot, der Sohn wird ins Heim gesteckt, erleidet Schlimmstes dort, und der nette Heimleiter entpuppt sich als Wolf im Schafspelz. Etwas durchsichtig ist das alles. Und zudem manchmal etwas dick aufgetragen.

Fazit:

2-einhalb von 5 Punkten. Melvin Burgess hat mit seinem Buch einiges gewagt – aber so richtig gewonnen hat er nicht. „Nicholas Dane“ ist ein mutiges Buch, weil es ein Tabu aufgreift, aber in den Griff hat Melvin Burgess das Thema nicht bekommen, finde ich. Dass die Erzählweise eher distanziert ist, mag dadurch motiviert sein, dass der Roman für Jugendliche lesbar bleiben soll und nicht bleischwer wird. Aber ein gewisses Unbehagen hat der lakonische Schreibstil bei mir doch hinterlassen. Immer wieder habe ich mich gefragt, ob man so über sexuellen Missbrauch und Gewalt schreiben sollte.

Immerhin: Die Geschichte geht einigermaßen gut aus … Und Carlsen garniert das Buch mit Telefonnummern und Adressen von Beratungsstellen, sollte man selbst Probleme haben. Was sicher gut gemeint ist, hat aber auch einen faden Beigeschmack. Wird das nun zur Norm, Problembüchern am Ende eine Liste mit Anlaufstellen hinzuzufügen?

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(Ulf Cronenberg, 15.05.2011)

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Kommentare (0)

  1. Gina

    Eine Frage, die sich mir nach der Rezension stellt: Warum kommt denn der arme Junge in ein Heim für schwer Erziehbare, nur weil seine Mutter gestorben ist? Wird das im Buch erklärt?

    Antworten
    1. Ulf Cronenberg

      Ja, das wird erklärt. Zum einen weil die Betreuerin des Jugendamts so viel auf dieses Heim hält, zum anderen weil Nicholas ein nicht immer nur einfacher Junge ist, der z. B. oft die Schule geschwänzt hat.

      Antworten
  2. Henriette Link

    Ich selbst habe das Buch gerade erst gelesen und bin ein wenig überrascht über die Kritik, der Autor würde das Thema Vergewaltigung nicht deutlich durchdringen und es auf die leichte Schulter nehmen. Meiner Meinung nach macht genau dieser Aspekt das Buch aus, genau deswegen lohnt es sich, dieses Buch zu kaufen. Melvin Burgess erzählt nah, aber nicht ekelnd, er geht auf die schwerwiegenden Folgen ein, die der sexuelle Missbrauch die Jungen ihr Leben lang verfolgt und traumatisiert. Mir selbst hat vor allem der nicht detaillierte Bericht über die angewandte Gewalt gefallen, die ständigen Wiederholungen und Ausführungen. Wahrscheinlich ertrage ich das einfach nicht so gut. Sonst halte ich das Buch aber in Bezug auf die Einschätzung der Folgen des Missbrauchs für empfehlenswert.

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  3. Jessy Joe

    Ich fand dieses Buch sehr, sehr spannend! Ich habe noch nie in meinem Leben so ein fantastisches Buch gelesen. Ich empfehle es aber nicht jedem, sondern nur denen, die auch nicht gerade Angst bekommen. Ich selber hatte ein wenig Angst, aber alles vergessen! Hauptsache, das Buch hat mir gefallen. LESEN LESEN LESEN!!!

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