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Buchbesprechung: Tobias Elsäßer „Für niemand“

Cover Tobias ElsäßerLesealter 14+(Sauerländer-Verlag 2011, 164 Seiten)

Für seinen vierten Jugendroman hat sich Tobias Elsäßer an ein heikles Thema gewagt: Es geht um Selbstmord. Den Titel für das Buch hat Tobias Elsäßer, der auch Gesangslehrer ist, übrigens einem Lied der Schweizer Sängerin Sophie Hunger entlehnt, das „Walzer für Niemand“ heißt.

Das Thema ist mir dann einen Tag, nachdem ich das Buch beendet hatte, gleich noch einmal begegnet. Ein Freund hatte mir auf DVD den Film „2:37“ geschenkt, und den habe ich gestern Abend angeschaut. Ich konnte also nicht umhin, die Behandlung des Themas Selbstmord in „Für niemand“ mit der im Film zu vergleichen. Dazu später mehr …

Inhalt:

Drei Jugendliche, die sich nur übers Chatten kennen und dort Train, Whisper und Sailor nennen, beschließen, gemeinsam ihrem Leben ein Ende zu setzen – weil es dann einfacher ist. Über das Wann und Wo wollen sie sich beim Chatten noch verständigen, und nebenbei kommen sie auch miteinander ins Gespräch. Doch über ihre Hintergründe, warum sie Selbstmord begehen wollen, schweigen sie sich voreinander aus. Jeder der Drei hat sein eigenes Motiv.

Yoshua ist noch Schüler und betätigt sich in seiner Freizeit als Hacker. Er arbeitet an einem Programm, mit dem er Chatgespräch, ohne dass die Gesprächspartner es merken, aufzeichnen kann. So wird er auf den Chatroom von Train, Whisper und Sailor aufmerksam und bekommt mit, was diese vorhaben. Irgendwie ist er fasziniert von den Gesprächen, zugleich aber auch schockiert. Yoshua nimmt sich vor, bevor es ernst wird, zur Polizei zu gehen.

Bis es so weit ist, versucht er jedoch selbst herauszufinden, wer die Drei sein könnten. Da er sein Programm immer in Internetcafés laufen lässt, um seine Spur zu verwischen, wird er auf ein hübsches Mädchen aufmerksam. Ihm drängt sich die Vermutung auf, dass das Mädchen zu den drei Chattern gehören könnte. Doch sicher ist er sich nicht. Da ihm das Mädchen jedoch gut gefällt, versucht er mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Und dann wird es ernst: Train, Sailor und Whisper verabreden, wann und wo sie sich gemeinsam das Leben nehmen wollen …

Bewertung:

Ambitioniert ist es in jedem Fall, sich des Themas Selbstmord in einem Jugendbuch anzunehmen – keine harmlose Sache. Die Gefahren liegen auf der Hand: Ein Buch darüber könnte bleischwer werden, aber es könnte indirekt auch Jugendliche dazu verleiten, es den Hauptpersonen nachzumachen. Tobias Elsäßer macht das ganz geschickt und erliegt keiner der beiden Gefahren. „Für niemand“ behält eine gewisse Leichtigkeit, die angesichts des Themas erstaunlich ist.

Auch sonst ist das Buch recht ambitioniert: „Für niemand“ wird mehrperspektivisch erzählt – man folgt der Geschichte hauptsächlich aus dem Blickwinkel von Train, Whisper und Sailor (bzw. Nidal, Marie und Sammy) sowie Yoshua. Ab und zu treten jedoch auch andere Figuren, die mit dem Geschehen zu tun haben, auf. Zudem werden immer wieder Chatprotokolle wiedergegeben. Neu ist die Idee eines Episodenromans natürlich nicht – aber sie passt zu dem Buch. Für den Leser gilt es, die Puzzleteilchen, die die einzelnen Personen auf den Tisch legen, zu einem Bild zusammenzufügen.

Das klingt so weit alles gut, und dennoch habe ich beim Lesen ein bisschen Reserviertheit dem Buch gegenüber gespürt. Ich musste länger überlegen, warum mich der Jugendroman nicht so richtig überzeugt hat. Letztendlich bin ich auf zwei wesentliche Punkte gekommen:

Zum einen wirkt „Für niemand“ auf mich etwas überkonstruiert. Jede der Figuren hat ein Motiv für den Selbstmord, aber irgendwie entpuppen sich die Motive, die man erst am Ende des Buchs kennenlernt, als zu klischeehaft. Wenn Train, Sailor und Whisper die Motive für die geplante Tat angeben, bleibt das alles etwas unmotiviert. Kurz gesagt: Mir bleibt das Buch hier zu oberflächlich – die Verzweiflung der Drei ist nicht gut genug begründet und wird recht harmlos dargestellt.

Etwas klischeehaft ist außerdem, dass Yoshua sich in Sammy verliebt. Was das am Ende bedeutet, kann man sich fast ausmalen … Klischees warten auch an anderen Stellen auf den Leser – und zwar für meinen Geschmack zu viele. Da hilft es auch nur begrenzt, dass das Buch am Ende nicht in allem gut ausgeht.

Zum anderen hat mich die Figurenzeichnung in „Für niemand“ nicht so ganz überzeugt – ihr fehlt es an Ernsthaftigkeit und Tiefe, wie sie dem Thema angemessen wäre. Sammy & Co. kommen zu brav daher, und ich hatte ab und zu Schwierigkeiten nachzuvollziehen, warum sie sich eigentlich das Leben nehmen wollen. Dem Roman fehlt es für ein Buch, in dem es um Selbstmord geht, letztendlich ein bisschen an Glaubwürdigkeit.

Fazit:

3-einhalb von 5 Punkten. Meine Kritik an Tobias Elsäßers neuem Buch ist sicher überdeutlich formuliert. Um ein schlechtes Jugendbuch handelt es sich bei „Für niemand“ nämlich nicht. Man mag auf die Kritikpunkte auch entgegnen, dass man einen Roman über ein so schweres Thema mit einer gewissen Leichtigkeit angehen muss, um ihn Jugendlichen vorlegen zu können. Und dennoch: Die Verzweiflung, die Jugendliche haben, die einen Selbstmord planen, kommt mir einfach zu wenig rüber. So hat „Für niemand“ eine Licht- und Schattenseite: Einerseits ist die Leichtigkeit bewundernswert, andererseits fehlt es dem Buch an Tiefe.

Beim Lesen von Tobias Elsäßers Jugendbuch hatte ich immer einen anderen Episodenroman vor Augen: Iva Procházkovás „Die Nackten“, der genau diese Ernsthaftigkeit und Tiefe besitzt, die ich bei „Für niemand“ vermisst habe, der außerdem in Bezug auf Sprache und Figuren einiges mehr zu bieten hat. Iva Procházková rückt ihren Figuren näher – und das fehlt mir bei „Für niemand“ eindeutig. Nach Anschauen des Films „2:37“ (Wikipedia-Artikel zum Film) ist mir das noch einmal klarer geworden. Der Film (er hat übrigens eine Freigabe ab 16 Jahren) ist schockierend, geht dem Zuschauer unter die Haut und lässt einen auch hinterher nicht los. Tobias Elsäßers Jugendbuch dagegen legt man vergleichsweise wenig berührt aus der Hand.

Die leichtfüßige Schreibweise von Tobias Elsäßer hat freilich auch sein Gutes: Man kann das Buch bedenkenlos 14-Jährigen in die Hand geben.

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(Ulf Cronenberg, 09.04.2011)

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Kommentare (0)

  1. Alice Gabathuler

    Ich erhebe dann mal Einspruch 🙂
    Für mich gehört dieses Buch zu den besten Neuerscheinungen dieses Jahres. Im Gegensatz zu „Tote Mädchen lügen nicht“ (ebenfalls ein Buch, in dem es um Selbstmord geht), wo ich mich von vorn bis hinten über die Figuren geärgert habe und nur noch fertig gelesen habe, um zu schauen, ob das noch irgendwann besser wird (wurde es nicht), hat mich dieses Buch tief in seinen Bann gezogen – und es hat mich berührt. Die Verzweiflung fand ich zwischen den Zeilen. Die Gründe für den Selbstmord mögen für uns Erwachsene klischeehaft wirken; für Jugendliche sind sie es nicht.

    Antworten
    1. Ulf Cronenberg

      Liebe Alice Gabathuler, es ist gut, wenn jemand Einspruch erhebt … – das ist ja nur meine Meinung, und andere, mit denen ich gesprochen habe, waren von „Für niemand“ mehr begeistert als ich (allerdings nicht alle).
      Mich freut es jedenfalls immer, wenn über Bücher diskutiert wird. Was „Tote Mädchen lügen nicht“ angeht, das ich sehr gut fand, sind wir auch unterschiedlicher Meinung – auch wenn das Buch schon sehr amerikanisch ist.
      Viele Grüße
      Ulf Cronenberg

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  2. Birgit V.

    Ich möchte auch noch Einspruch erheben … 🙂
    Für mich hat das Buch 4 1/2 Punkte verdient. Tolle Geschichte, wow, ich habe das Buch in einem Tag durchgelesen. Manchmal fand ich es etwas unnötig in die Länge gezogen, aber im Großen und Ganzen war es eins der besten Bücher, die ich in der letzten Zeit gelesen habe (und das sind nicht wenige).
    Wie die Geschichte von jedem Einzelnen erzählt und zum Schluss zusammengeführt wird … Trauriges Ende, aber passend (wenn es anders ausgegangen wäre, wäre ich auch enttäuscht gewesen).

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  3. Luisa U.

    Ich möchte dir zustimmen … 🙂
    „Tote Mädchen lügen nicht“ ist – meiner Meinung nach – ein ausgezeichnetes, tiefgründiges Buch. Ich selbst bin jugendlich und habe mich in diesen Personen wiedergefunden und war immer wieder erschrocken darüber, wie ein Buch so viele Dinge aus meinem Umfeld aufgreifen kann. Wohingegen „Für niemand“ meiner Meinung nach sehr oberflächlich geschrieben war.
    Liebe Grüße …

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  4. readeralex

    Auch mir hat „Tote Mädchen lügen nicht“ besser gefallen, da es für mich deutlich realitätsnäher und nachvollziehbarer war als „Für niemand“ und man sich besser in die Charaktere einfühlen konnte.

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