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Buchbesprechung: Anne-Laure Bondoux „Die Zeit der Wunder“

Cover Anne-Laure BondouxLesealter 13+(Carlsen-Verlag 2011, 189 Seiten)

Bücher über Kinder und Jugendliche, die aus ihrer Heimat fliehen müssen, gibt es einige – darunter z. B. das vor zweieinhalb Jahren erschienene „Hesmats Flucht“ von Wolfgang Böhmer, das jedoch im Gegensatz zu Anne-Laure Bondoux’ Jugendroman „Die Zeit der Wunder“ eher als literarisches Sachbuch bezeichnet werden kann. Denn Böhmers Buch beruht auf einer wahren Geschichte. Was „Die Zeit der Wunder“ betrifft, so ist nicht bekannt, ob dem Buch über die Flucht eines Jungen aus dem Kaukasus ein tatsächlicher Vorfall zugrunde liegt. Anne-Laure Bondoux ist übrigens Französin und hat – entgegen meinen ersten Vermutungen – wohl keinen Hintergrund, der auf ein ähnliches Schicksal wie das ihrer Hauptfigur hinweist.

Inhalt:

Koumaïl ist ein Junge, der im Kaukasus in einem ziemlich verfallenen Haus aufwächst, in dem viele Kriegsflüchtlinge untergekommen sind. Seine Eltern kennt Koumaïl nicht – um ihn kümmert sich Gloria, die Koumaïl immer wieder die Geschichte erzählt, wie sie ihn gefunden hat. Sie hat den Jungen aus einem Zug, der wegen eines Anschlags entgleist ist, gerettet. Die Mutter Koumaïls war noch am Leben, hat ihren Sohn jedoch Gloria anvertraut. Das spätere Suchen nach der Mutter – so geht die Geschichte weiter – hatte keinen Erfolg. Möglicherweise ist sie bei dem Zugunglück doch ums Leben gekommen.

Zur Geschichte über Koumaïls Herkunft gehört auch, dass seine Mutter Französin war und Gloria den Namen des Jungen verraten hat: Blaise Fortune wurde er genannt. Ziel von Gloria ist es wohl aus diesem Grund, mit Koumaïl irgendwann nach Frankreich zu fliehen – doch das ist nicht unbedingt leicht zu bewerkstelligen, denn im Kaukasus herrscht Bürgerkrieg. Außerdem ist Gloria krank und hustet ständig – auch wenn sie das herunterspielt.

Eines Tages ist es jedoch so weit. Die beiden brechen in Richtung Frankreich auf. Doch dabei geht einiges schief. Sie vertrauen sich z. B. einem Flüchtlingsschlepper an, der sie jedoch nicht über die Grenze bringt, sondern sie in einem Haus vor der Grenze sitzen lässt. Die dafür gezahlten Dollarnoten, die Gloria bis dahin vor Koumaïl geheim gehalten hat, sind verloren. Durch Glück und Unterstützung anderer kommen die beiden trotzdem weiter …

Bewertung:

„Die Zeit der Wunder“ (Übersetzung: Maja von Vogel) fängt damit an, dass Koumaïl rückblickend seine Geschichte zu erzählen beginnt – von daher ist von der ersten Seite an klar, dass Koumaïl es nach Frankreich schaffen wird. Die Umstände der Flucht werden jedoch nicht aufgedeckt, ebenso wenig wie die Frage, wie es ihm, dort angekommen, schließlich ergeht. So bleiben für die im Folgenden berichtete Lebensgeschichte Koumaïls ausreichend Spannungsmomente übrig.

Dass Anne-Laure Bondoux’ Buch kein Sachbuch ist und sein will, wird einem schon auf den ersten Seiten klar. Die Geschichte ist vom Aufbau her raffiniert erzählt, und auch auf sprachlicher Seite merkt man schon bald, dass man es mit einem literarisch durchaus anspruchsvollen Buch, das jedoch altersgemäß für Jugendliche geschrieben ist, zu tun hat. Sehr einfühlsam werden die Gefühle von Koumaïl in Worte gefasst – egal, ob es um Positives oder Schreckliches geht.

Während der Flucht von Gloria und Koumaïl passieren einige furchtbare Dinge. Anne-Laure Bondoux dosiert sie jedoch so, dass man sie auch 13-Jährigen zumuten kann. Der Kniff hierfür ist, dass die Geschichte aus der Sicht Koumaïls in dessen jugendlicher Naivität erzählt wird – und Koumaïl kapiert manches, was an Schlimmem passiert, nicht. Als Leser ist man Koumaïl da einen Schritt voraus und ahnt oder weiß natürlich, was z. B. geschieht, wenn Gloria Koumaïl im Tankstellen-Café zurücklässt, um mit einen LKW-Fahrer zu sprechen, der sie mitnehmen soll … Jedoch kann sich jeder Leser die Bilder dazu selbst machen.

Der Schwerpunkt von „Die Zeit der Wunder“ liegt oft eher auf der Schilderung der inneren Handlung als darauf, die Flucht zweier Menschen nach Frankreich möglichst spannend wiederzugeben. Leser, die von der Handlung gefesselt sein wollen, werden das schade finden; doch meiner Meinung nach wird Koumaïls Geschichte auf diese Art und Weise einfühlsamer und nachdrücklicher erzählt, als wenn die Geschehnisse in allen Details ausgebreitet worden wären.

Fazit:

5 von 5 Punkten. Koumaïl ist eine Figur, die man nicht so schnell vergisst. Der Junge aus dem Kaukasus ist sympathisch. Manchmal ist er verzweifelt und Gloria muss ihn wieder aufbauen, dann wieder kämpft er sich tapfer voran, indem er die Hoffnung nicht aufgibt. Ohne Zweifel: Koumaïl und seine Geschichte machen dem Leser deutlich, welch schlimmen Dinge andere Jugendliche auf der Welt erleiden müssen – und bei weitem nicht alle Schicksale gehen so vergleichsweise glimpflich aus wie das von Koumaïl.

Beeindruckt hat mich die Intensität, mit der Anne-Laure Bondoux ihren Roman erzählt. Die Sprache ist eindringlich, der Aufbau des Romans virtuos und das eher offen gehaltene Ende passt zu der Geschichte. Manchmal kommt einem die Figur Koumaïls fast schon ein bisschen zu tapfer und heldenhaft gezeichnet vor – aber manchen Büchern verzeiht man diese Überzeichnung gerne. „Die Zeit der Wunder“ gehört eindeutig dazu.

Ein kleines Detail noch zum Schluss: Auch die äußere Gestaltung des Romans hat mir gut gefallen. Vom passenden Cover, das zum poetischen Buchtitel passt, über die Typografie bis hin zu den Überschriften der Kapitel, bei denen immer wieder einzelne Buchstaben unproportional groß und leicht schräg gedruckt sind, passt hier einfach alles.

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(Ulf Cronenberg, 27.06.2011)

Lektüretipp für Lehrer!

Wegen seiner einfühlsamen Schreibweise und des literarisch anspruchsvollen Aufbaus, eignet sich „Die Zeit der Wunder“ durchaus für den Deutschunterricht – am besten in ein fächerübergreifendes Projekt eingebettet, bei dem die Schüler sich mit dem Thema Flüchtlinge auseinandersetzen. Anne-Laure Bondoux’ Buch zeichnet sich – wie oben schon beschrieben wurde – vor allem dadurch aus, dass es keine wirklich schlimmen Szenen enthält. Trotzdem thematisiert das Buch sehr geschickt die Schrecknisse, die Hoffnungen und das Verzweifeln an einer Flucht. Schüler einer 8. Klasse sind damit sicher nicht überfordert, auch wenn sie möglicherweise das Buch ein wenig zu handlungsarm finden mögen.

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Kommentare (9)

  1. Jörn Baier

    Ein Buch, bei dem man sich für die Bewertung eine nach oben offene Richter-Skala wünschen würde. Vor einigen Wochen habe ich es meiner 13-jährigen Tochter geschenkt. Nachdem sie und meine ältere Tochter das Buch mit Begeisterung gelesen hatten, habe ich es mir heute vorgenommen. Jetzt habe ich es durch und bin noch ein wenig geplättet von dieser schönen Geschichte.
    Und: Wieder mal ein toller Tipp auf dieser Website! Weiter so!

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  2. Pingback: Jugendbuchtipps.de» Blogarchiv » Buchmesse Leipzig 2012 – Nominierungen für den Deutschen Jugendliteraturpreis

  3. lina

    Dieses Buch ist zwar an ein paar Stellen brutal, aber es ist echt gut!

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  4. Michael Petrikowski

    Die Autorin Anne-Laure Bondoux wird für den Roman mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher 2012 ausgezeichnet.
    In der Begründung der Jury heißt es: “Das Buch zeigt ein hohes literarisches Niveau, das die Thematik der Migration und der Flüchtlingsproblematik in hervorragender Weise widerspiegelt.”
    Die Preisverleihung findet am 12. November 2012 in Essen statt.

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  5. Rose Martin

    Wow – bin sprachlos! Klasse Buch!

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  7. Peter PAN

    Dieses Buch ist gut. Doch es ist nicht schön.

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  8. Viktoria Filak

    Das Buch ist eines von meinen Lieblingsbüchern! Es ist schön und traurig zugleich und sehr spannend. Wir lesen das Buch gerade in der Schule, aber sehr viele aus unserer Klasse haben – so wie ich – das Buch schon fertig gelesen, da es ,wie gesagt, sehr spannend ist und wir alle unbedingt das Ende kennen wollten! Wirklich ein großartiges Buch! ☺☺

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