(Script5-Verlag 2010, 276 Seiten)
Script5 versteht es doch zumindest, die Cover der eigenen Bücher besonders interessant zu gestalten (siehe auch Bernard Becketts „Stechzeit“). Man fühlt sich gleich in die tiefste Provinz versetzt, wenn man Agnes Hammers Jugendroman „Dorfbeben“ anschaut. Das Cover hat jedenfalls etwas …
Agnes Hammer ist eine noch jüngere deutsche Autorin, die im März 2010 zusätzlich bekannt geworden ist, weil sie mit Tobias Elsäßer zusammen das erstmals verliehene Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium bekommen hat. Ja, so was gibt es inzwischen, und ich finde es gut, dass Nachwuchsautoren damit gezielt auch im Kinder- und Jugendliteraturbereich gefördert werden.
Inhalt:
Mattes lebt bei seiner Oma auf dem Land, denn in der Stadt bei seiner Mutter hat er es irgendwann nicht mehr ausgehalten. Sein Gehör ist so gut, dass er Geräusche nicht richtig filtern kann, weswegen ihm der Lärm in der Stadt irgendwann zu viel wurde und er davon Anfälle bekommen hat. Im Dorf seiner Oma geht es da gemächlicher zu – allerdings nur bis zu dem Moment, als Jakob, ein älterer Mann und früher Bürgermeister der Gemeinde, in einer Klosterkirche ermordet wird. Mit einem IKEA-Messer, das findet die Polizei später heraus, wurde ihm die Kehle durchgeschnitten.
In dem Dorf geht daraufhin alles drunter und drüber. Gefunden hat die Leiche Bruno, und er gehört bei den Dorfbewohnern deswegen zum Kreis der Hauptverdächtigen. Natürlich ermittelt die Polizei in dem Fall, tappt aber erst einmal ziemlich im Dunkeln. Niemand aus dem Dorf will etwas über die anderen Dorfbewohner erzählen, alle halten sich bedeckt.
Mattes‘ Tante Lena, die gerade ihre Arbeit in einem kriminalistischen Institut, wo sie Stimmanalysen durchgeführt hat, verloren hat, kommt in das Dorf zurück. Sie kennt auch den ermittelten Kommissar, hält von ihm aber nicht viel. Das ist auch der Grund, warum sie selbst beginnt, Nachforschungen anzustellen. Mattes unterstützt sie dabei. Beide haben die Ahnung, dass der Mordfall etwas mit der Vergangenheit der Dorfbewohner zu tun hat – doch auch Mattes und Lena kommen nicht so richtig weiter.
Dann jedoch wird es ernst, denn Mattes und Lena wird gedroht, dass sie damit aufhören sollen, ihre Nase in die Angelegenheiten anderer zu stecken. Sie finden einen Drohbrief sowie als deutliche Warnung eine tote junge Katze in einem Karton vor ihrer Haustüre …
Bewertung:
„Dorfbeben“ ist ein ziemlich ungewöhnlicher Krimi – Script5 verwendet auf dem Cover sogar das Prädikat „Thriller“. (Auf der Buchmesse hatte mir jemand – ich weiß nicht mehr, wer es war – gesagt, dass man als Verlag heute nicht mehr „Krimi“ auf das Deckblatt schreiben dürfe, weil sich das Buch dann schlechter verkaufe, als wenn dort „Thriller“ steht.) Der Mord an Jakob kratzt an dem Dorfidyll, doch je länger Mattes und Lena ermitteln, desto klarer ist, dass es unter der Oberfläche brodelt und dass die Dorfbewohner ziemlich viel Gram über vergangene Dinge mit sich herumschleppen. Irgendetwas Schlimmes, das zu dem Mord geführt hat, muss in früheren Zeiten geschehen sein. Wie Lena und Mattes tappt man als Leser bei „Dorfbeben“ lange im Dunkeln, bekommt – das ist atmosphärisch gut gemacht – jedoch die unterschwellige Aggressivität der Dorfbewohner durchaus mit.
Das Dorf, in dem das Buch spielt, ist von einigen skurrilen Bewohnern bevölkert – und das ist einer der Gründe, warum das Lesen von Agnes Hammers Buch ein Vergnügen ist. Es sind nicht nur die hörsensiblen Lena und Mattes zu nennen, es gibt darüber hinaus einen ungewöhnlichen Pfarrer, der Mattes das Klavierspielen beigebracht hat und der diesen auch sonst in vielem unterstützt – Mattes‘ Rockband darf sogar im Pfarrheim proben (zumindest bis ein Bischof interveniert). In einem Dorf dürfen außerdem die Strickfrauen nicht fehlen … Und so ließe sich die Liste der ungewöhnlichen bis verschrobenen Gestalten, die in dem Buch vorkommen, fortführen.
Was die Handlung angeht, so lässt Agnes Hammer es trotz des Mordes gemächlich angehen. Die Autorin geht nicht nur dem Krimi-Plot nach, sondern lässt auch Raum für Nebenhandlungen. Dazu zählt unter anderem, dass Mattes in die Bassistin seiner Rockband verliebt ist, sich aber nicht traut, ihr das zu gestehen. Letztendlich sind die Nebenhandlungen wichtig, weil das Buch über den Mord hinaus einiges mehr zu bieten hat und dadurch nicht eindimensional wirkt.
Am Ende der meisten Kapitel findet man kurze Rückblenden von einer halben bis eineinhalb Seiten Länge, die mit einem Datum versehen sind. Die kursiv gesetzten Texte berichten von Dingen, die u. a. 1944 oder 1967 geschehen sind und mit dem Mord zusammenhängen. Die Idee ist literarisch anspruchsvoll – aber so richtig blickt man bei den Texten erst durch, wenn man die Auflösung des Buches kennt. Vorher bleiben dem Leser diese Erzählschnipsel eher ein Rätsel. Als geübter Krimileser kennt man eine solche Technik natürlich – doch so richtig zufrieden war ich mit Agnes Hammers Umsetzung nicht. Mir bleiben die Rückblenden zu fragmentarisch und zu kryptisch – sie wirken ein wenig konzeptlos an die Kapitel drangehängt und nicht wirklich in das Buch integriert.
Fazit:
4 von 5 Punkten. Was lässt sich zusammenfassend über „Dorfbeben“ sagen? Der Jugendroman hat viele gute Ansätze. Dazu zählt die Figurenzeichnung – insbesondere Mattes und Lena als eigenwillige Ermittler wissen zu gefallen. Auch die unterschwellig gewaltgetränkte Stimmung eines Dorfidylls wird gekonnt beschrieben. Die Handlung schließlich bietet eine gekonnte Mischung aus Krimi und darüber hinausgehenden Themen. Wären da nicht die zwar literarisch kunstvoll gedachten, aber in der Umsetzung halbherzigen Rückblenden, könnte man dem Buch fünf Punkte geben. Denn ansonsten waren es nur Kleinigkeiten (der ein oder andere etwas sehr kompliziert gebaute Satz z. B.), die mir negativ aufgefallen sind.
Ist Agnes Hammers Jugendroman nun wirklich ein Thriller, wie das Script5 auf dem Deckblatt behauptet? Dazu muss ich doch noch etwas anmerken … Klar, das Buch zeigt eine wohl dosierte Spannung, denn man will ja wissen, wer der Mörder ist. Und zwischendrin passieren auch Dinge, die Lena und Mattes bewusst machen, dass sie selbst in Gefahr sind. Unter einem Thriller verstehe ich dann allerdings doch etwas mehr. Nein, „Dorfbeben“ ist einfach ein Kriminalroman für Jugendliche – ein größtenteils geschickt gestalteter mit kleinen Schwächen …
(Ulf Cronenberg, 20.11.2010)
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Hallo Ulf, ich stamme aus der Gegend, die die Vorlage für Agnes Hammer bildete, und ich bin in einem ebensolchen Dorf aufgewachsen – mit diesem Hintergrund ist das Buch sogar grandios (ich finde es auch sonst sehr, sehr gelungen!) Da sind die Figuren gar nicht mehr skurril, sondern ganz normal. Ich sah unsere Dorfgemeinschaft vor mir, musste dauernd an meine Tanten, die Kriegerwitwen denken. Beim nächsten Heimatbesuch werde ich meinen Vater mal ein bisschen über die Vergangenheit des Dorfes löchern… 🙂
LG Frank
Hallo Frank,
das ist ja interessant … Hoffentlich stößt du nicht auf irgendwelche Leichen.
Viele Grüße, Ulf