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Interview mit Birgitt Kollmann über gute Jugendbücher und über das Übersetzen

Birgitt Kollmann übersetzt seit mehr als zehn Jahren Jugendbücher aus dem Englischen. Unter den Autoren, deren Bücher sie ins Deutsche übertragen hat, sind bekannte Namen wie Sally Nicholls, Sarah Weeks, Martha Brooks, Louis Sachar oder Joyce Carol Oates.

Ich habe in den letzten Tagen per Mail mit Frau Kollmann ein Interview geführt, in dem es u. a. darum geht, was eigentlich gute (Jugend-)Bücher ausmacht und welche Erfahrungen Frau Kollmann mit dem Übersetzen gemacht hat.

JBT: Frau Kollmann, Sie übersetzen seit vielen Jahren Jugendbücher. Werden Sie manchmal gefragt, ob Sie nicht „richtige Literatur“, also Erwachsenenbücher, übersetzen wollen? Und wenn ja, was entgegnen Sie darauf?

Birgitt Kollmann: Ich werde tatsächlich immer wieder gefragt, ob ich „nur“ Jugendbücher übersetze – und eigentlich freue ich mich immer diebisch über diese Frage, weil sie mir Gelegenheit gibt, zu einem längeren Plädoyer für gute Kinder- und Jugendliteratur auszuholen. Zuerst einmal verbessere ich das „nur“ in „ausschließlich“, damit gleich klar ist, dass es zwischen Büchern für Kinder oder Jugendliche und solchen für Erwachsene keinen grundsätzlichen Rangunterschied gibt. Es ärgert mich auch, dass selbst Verlage zwischen ihrer „Belletristik“, also der sogenannten „schönen Literatur“, und ihren Büchern für ein jüngeres Publikum unterscheiden. Ich bin überzeugt, dass Bücher, die keine in irgendeinem Sinne lohnende Lektüre für Erwachsene darstellen, auch für junge Leser nicht wirklich empfehlenswert sind. Beide Gruppen lesen natürlich mit anderen Augen, weil sie unterschiedliches Lebenswissen haben, aber gute Bücher haben eben diese Eigenschaft: dass man auch mit ihnen wachsen kann und man mit zunehmendem Alter immer wieder andere Dinge darin entdeckt. Ich selbst habe als Kind sehr viel und sehr gern gelesen, ich habe am Ende meines Studiums meine Diplomarbeit zum Thema Kinderbuchübersetzung geschrieben, der Bezug war also einfach da, und so habe ich in den letzten Jahren rund fünfzig Bücher für junge Leser und Leserinnen übersetzt. Ich würde jederzeit auch Bücher für Erwachsene übersetzen, das entscheidende Kriterium ist aber immer die Qualität.

JBT: Qualität ist ein schillernder Begriff, mit dem ich mich etwas schwer tue. Bücher können sprachliche Qualität haben, erzähltechnisch auf hohem Niveau sein, etc. – aber letztendlich kommt immer auch etwas anderes hinzu: ob man persönlich bei einem Buch andocken kann, ob es einem was zu sagen hat. Wir haben ja schon einige Bücher in Mails diskutiert – ich erinnere mich z. B. an Alison McGhees Jugendbuch „Falling Boy“, das Sie als Übersetzerin toll fanden, das mir aber gar nichts gesagt hat. Langer Rede kurzer Sinn: Was ist für Sie Qualität?

Birgitt Kollmann: Das ist wirklich eine ganz schwierige Frage. Am eindeutigsten beantworten kann ich sie immer dann, wenn ich gerade ein richtig gutes Buch lese – dann weiß ich einfach, dass es gut ist, dass es sich von so vielen anderen, eher mittelmäßigen deutlich abhebt, dann lese ich fast mit angehaltenem Atem. Sally Nicholls’ „Wie man unsterblich wird“ war so ein Fall, da war ich mir von der ersten Seite an fast sicher, dass das kaum noch schief gehen konnte. Auch John Greens Bücher (die Sophie Zeitz übersetzt hat) gehören für mich in diese Kategorie.
Mit „Qualität“ meine ich nicht einfach, ob mir ein Buch gefällt oder nicht. Ich selbst lese ein Buch gar nicht so sehr auf die Geschichte hin, die erzählt wird, mich interessiert immer zuallererst, wie etwas erzählt wird – die besondere Sprache, die mich einfängt, der interessante Aufbau einer Geschichte, die Glaubwürdigkeit der Charaktere. Ich muss die Menschen in einem Buch wirklich vor mir sehen, muss sie sprechen hören (was übrigens auch für die Übersetzung ganz wichtig ist), muss dem Autor abnehmen, wie seine Figuren sich verhalten, wie sie miteinander umgehen. Ich mag auch nicht, wenn von Anfang an klar ist, wie eine Geschichte sich entwickelt. Und ich möchte spüren, dass ein Autor, eine Autorin eine Geschichte dringend erzählen musste. Aber natürlich gibt es viele Bücher, die sicher von hoher Qualität sind, für die ich nur leider gar keine Antenne habe. Das spricht weder gegen das Buch noch gegen mich – wir passen nur einfach nicht zueinander.
Was „Falling Boy“ angeht: Ein Vorteil von uns Übersetzern gegenüber Rezensenten oder „normalen“ Lesern ist wohl, dass wir – zumindest wenn wir gründlich arbeiten – ein Buch viele, viele Male lesen und irgendwann sehr genau kennen. Dabei erschließt sich oft auch die eher verborgene Schönheit stillerer, vielleicht nicht sofort zugänglicher Bücher. Alison McGhee hat in ihren Büchern Menschen geschaffen, die man wirklich zu kennen glaubt und nie vergisst.

JBT: Das wiederholte Lesen von Büchern ist für mich übrigens etwas, wo sich zeigt, ob ein Buch wirklich gut ist. Für die Juryarbeit zum Deutschen Jugendliteraturpreis lese ich viele Bücher ein zweites, manche auch ein drittes und viertes Mal. Ja, und da gibt es Bücher, die beim zweiten Lesen auf einmal langweilig sind, während andere an Reiz gewinnen. Das sind die wirklich guten Bücher, die dem Leser über die Story hinaus etwas zu sagen haben. Kevin Brooks’ Bücher halten z. B. einem zweiten Lesen stand. Das ist zumindest bei mir so.
Kennen Sie das im Übrigen, dass Sie ein Buch dann beim Übersetzen irgendwann zu nerven anfängt, dass die anfängliche Begeisterung verfliegt?

Birgitt Kollmann: Nein, so sehr genervt hat mich ein Buch zum Glück noch nie. Aber natürlich führt diese lange und gründliche Beschäftigung mit einem Text dazu, dass man nicht nur seine Stärken, sondern auch seine Schwächen deutlicher erkennt als beim einmaligen oder ersten Lesen. Ich würde dann gern die Autoren vor den kritischen Blicken Dritter in Schutz nehmen, was normalerweise natürlich nicht geht. In einem Fall habe ich die Autorin eines sehr, sehr schönen Buches vorsichtig gefragt, ob man einen Witz, den ich sehr bemüht fand, nicht in der deutschen Übersetzung streichen könne, da der deutsche Humor vielleicht doch etwas anders sei. Da sie inzwischen den Eindruck hatte, dass ich ihr Buch mit viel Engagement übersetzte, hat sie mir da vertraut und freie Hand gegeben. Aber so etwas ist natürlich die Ausnahme.
Grundsätzlich bin ich ganz Ihrer Meinung: Gute Bücher werden beim wiederholten Lesen immer noch besser, schwache oder schlechte Bücher immer noch schlechter.

JBT: Damit sind wir ja auch beim eigentlichen Thema des Interviews: dem Übersetzen. Wann nehmen Sie denn das erste Mal Kontakt mit einem Autor oder einer Autorin auf? Wahrscheinlich ist das unterschiedlich … Aber ist das meist eher vor dem Beginn des Übersetzens oder eher erst mittendrin oder ganz am Ende? Gab es auch schon mal ein Buch, das Sie übersetzt haben, wo Sie sich gar nicht mit dem Autor ausgetauscht hatten?

Birgitt Kollmann: Als ich anfing, Bücher zu übersetzen, vor vierzehn Jahren, wagte ich zunächst gar nicht, Autoren anzuschreiben. Als ich dann doch begann, wegen ganz spezifischer Übersetzungsprobleme den Kontakt zu suchen, und merkte, wie positiv die Reaktion war, habe ich angefangen, die meisten „meiner“ Autorinnen und Autoren möglichst früh einzubeziehen. Neben konkreten Fragen, bei denen ich mich oft einfach vergewissern will, ob ich die Zwischentöne an bestimmten Stellen richtig herausgehört habe, führt der regelmäßige Austausch von Mails dazu, dass man die Autoren in ihrer Denkweise und Sprache noch besser kennenlernt.
Im Moment arbeite ich an einem sehr schönen neuen Buch. Ich habe mich der Autorin gleich vorgestellt, von meiner Art zu arbeiten und „meinen“ früheren Autoren berichtet, damit sie mich ein wenig einschätzen kann. Es muss doch auch beunruhigend für Schriftsteller sein, dass ihre Bücher in zahlreichen, ihnen selbst meist fremden Sprachen kursieren, ohne dass sie selbst die Qualität und Treue der Übersetzungen einschätzen können.
Zu meinem Erstaunen hat mir nun die Autorin meines neuen Projekts geantwortet, sie sei nie zuvor von Übersetzern kontaktiert worden, obwohl etliche ihrer Bücher in Übersetzungen vorliegen. Sie mache sich aber beim Verkauf der Lizenzen ins Ausland sehr wohl Gedanken, wie es ihren Geschöpfen in der fremden Sprache ergehen mag. Diese Autorin lässt sich mit einer mir bisher unbekannten Intensität auf übersetzungstechnische Fragen ein. Das macht ungeheuren Spaß.
Ein Phänomen, mit dem ich nie gerechnet hätte, ist, dass das Buch in der neuen Sprache für viele Autoren etwas zu sein scheint, was nicht mehr so ganz zu ihnen gehört, es wird ihnen fremd. Ganz extrem gibt es das natürlich, wenn nicht nur die Sprache fremd ist, sondern auch die Schrift. Es gibt interessante Berichte von Autoren, wie sie ratlos ihre eigenen Bücher in kyrillischer oder koreanischer Schrift betrachtet haben. Durch die Zusammenarbeit mit ihren Übersetzern könnten die Autorinnen und Autoren zumindest das Vertrauen gewinnen, dass da jemand alles tut, um eine Übersetzung zu schaffen, die dem Original möglichst nahe kommt.

JBT: Das wundert mich dann doch, dass Autoren davon berichten, noch nie von Übersetzern kontaktiert worden zu sein. Das hätte ich nicht erwartet. Wenn das der Fall ist, kann ich mir jedenfalls gut vorstellen, dass ein Autor oder eine Autorin das Gefühl bekommt, das Buch gehört nicht mehr ganz zu ihm oder zu ihr. Wie sehr wird denn eigentlich ein Buch, das Sie übersetzt haben, zu so etwas wie „ihrem eigenen Kind“? Wie verbunden fühlen Sie sich den Büchern?

Birgitt Kollmann: Diese Verbundenheit ist natürlich immer da, gerade weil ich nur Bücher übersetzt habe, hinter denen ich stehe und bei denen ich mir auch wünsche, dass sie Erfolg haben und viel gelesen werden. Sonst würde ich mir die große Mühe ja nicht machen. Ich schaue immer wieder in Buchhandlungen nach „meinen“ Büchern und freue mich, sie zu sehen, auch (oder vielleicht gerade) wenn es schon ältere Bücher sind. Aber am intensivsten ist die Beziehung natürlich während der Arbeit an einem Buch. Für mich habe ich das Bild eines Austauschschülers gefunden, der eine Zeitlang in unserer Familie lebt, bei uns Deutsch lernt, sich ein bisschen an unsere Kultur anpassen muss und für diese Zeit unser Kind ist. Aber so wie ein Austauschschüler nach einer Weile zu seiner richtigen Familie zurückkehrt, so gebe ich das Buch am Ende meiner Arbeit den Autoren zurück.

JBT: Wenn Sie mal die Bücher, die Sie in den letzten fast eineinhalb Jahrzehnten übersetzt haben, Revue passieren lassen – gibt es dann so etwas wie einen roten Faden bei den Büchern? Bestimmte Themen, bestimmte Schreibweisen bei den Autoren oder was immer?

Birgitt Kollmann: Die Themen der von mir bislang übersetzten Bücher sind ausgesprochen vielfältig: Leben in der Steinzeit, Leben im heutigen Indien oder in der Glaubensgemeinschaft der Shaker (mein erstes, sehr schönes Buch), eine Reise auf den Spuren Marco Polos im 17. Jahrhundert, eine Reise in die Arktis, die Geschichte eines Mädchens mit schwersten Verbrennungen, der Ritt eines Mädchens quer durch Amerika, der Kampf von Umweltschützern um Kanincheneulen (die gibt’s wirklich!), traumatische Erfahrungen durch Krieg, Krankheit oder Tod und vieles mehr, vor allem natürlich immer wieder familiäre Konflikte aller Art.
Wenn es ein Element gibt, das sehr viele dieser Bücher verbindet, dann vielleicht eine große Intensität, und die im Deutschen zu erhalten, ist mein zentrales Anliegen.

JBT: Reden wir noch über ein heikles Thema: Geld. Bei der Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises 2009 machte Gabriele Haefs, ebenfalls Übersetzerin, nachdrücklich darauf aufmerksam, dass gerade Übersetzer von Jugendbüchern extrem schlecht bezahlt werden, außerdem viel zu wenig gewürdigt würden. Ich frage mal vorsichtig: Wollen Sie dazu etwas sagen?

Birgitt Kollmann: Natürlich ist es ein Skandal, dass Übersetzer so wenig verdienen, dass nur die wenigsten allein von ihrer literarischen Arbeit leben können, dass offenbar immer wieder auch anerkannte, selbst mit Preisen ausgezeichnete Übersetzer in materielle Not geraten. Natürlich ärgert es mich, wenn ich einen Handwerker bezahle, der mir, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Vielfaches von dem in Rechnung stellt, was ich in derselben Zeit verdienen kann. ABER: Genauso bin ich der Meinung, dass Autoren mehr verdienen sollten, ebenso wie Illustratoren und Lektoren (deren wichtige Arbeit schon gar nicht gewürdigt wird) – während ich mir als Leserin und Buchkäuferin wünsche, dass Bücher möglichst nicht teurer werden. Wie man das alles unter einen Hut bekommt, weiß ich nicht.
Eine größere Würdigung der Leistung von Übersetzern (und bitte ohne das abgeschmackte Wort „kongenial“!) wäre natürlich schön. Meist werden die Leser und Leserinnen einer Besprechung nicht einmal im Text darauf hingewiesen, dass von einer Übersetzung die Rede ist, dass beispielsweise der Autor eben nur zum Teil für den hochgelobten Stil verantwortlich ist – andererseits sehen sich die meisten Rezensenten zu einer ausführlicheren Übersetzungskritik auch nicht in der Lage, weder zeitlich noch inhaltlich.

JBT: Was Übersetzungskritik und –würdigung angeht, fühle ich mich meist etwas hilflos. Ich merke wohl, wenn ein Buch sprachliche Schwächen hat, und das ist bei Übersetzungen wohl auch mit auf den Übersetzer zurückzuführen, aber mehr eben auch nicht. Was ich nicht bemerke, ist, wenn ein Übersetzer oder eine Übersetzerin ein sprachlich holperiges Buch in ein flüssiges Buch umwandelt. Und das gibt es durchaus. Diese Leistung gehört eigentlich gewürdigt. Aber das ist in einer Buchbesprechung nicht zu leisten.
Über abgeschmackte Formulierungen ließe sich auch einiges sagen. „Pageturner“ für einen guten Thriller wäre auch so ein Wort … – aber ich will nicht abschweifen.
Letzte Frage: Wenn Sie Ihre ersten übersetzten Bücher heute durchlesen, haben Sie dann das Gefühl, dass Sie einiges heute anders und besser machen würden?

Birgitt Kollmann: Es gibt immer Stellen, an denen mir bei einer späteren Lektüre eine andere Lösung besser gefallen würde, aber grundsätzlich bin ich mit allen Büchern immer noch einverstanden. Direkt nach Erscheinen eines neuen Buches schaue ich nicht gern hinein, weil mich dann selbst jeder Druckfehler furchtbar ärgern würde. Aber mit einigen Jahren Abstand lese ich eine alte Übersetzung ganz gern, und wenn mir dann absolut nicht mehr einfällt, wie bestimmte Stellen auf Englisch hießen, dann ist alles gut.

JBT: Frau Kollmann, vielen Dank für das Interview. Ich bin auf die nächsten Bücher, die Sie übersetzen werden, gespannt, und freue mich auch darauf, mich hier und da immer wieder über Jugendbücher mit Ihnen austauschen zu können.

(Ulf Cronenberg, 26.08.2010)


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Kommentar (1)

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