(Picus-Verlag 2010, 223 Seiten)
Manchmal ist es interessant, wenn man bei den Presseleuten eines Verlages nachfragt, ob sie auch im Erwachsenen-Programm ein Buch haben, das für Jugendliche interessant sein könnte. So bin ich jedenfalls zu Doris Mayers Roman „365“ gekommen, nachdem ich aus dem gleichen Verlagshaus auch Gabi Kreslehners „In meinem Spanienland“ – ebenfalls kein ausgewiesenes Jugendbuch – gelesen hatte. Ist „365“ wirklich ein Buch, das man Jugendlichen empfehlen kann? Das war die Frage …
Ein seltsames, aber faszinierendes Szenario wird in Doris Mayers Roman dargestellt. Die Welt steht quasi still. Elektrische Geräte funktionieren nicht mehr, das Gleiche gilt für Autos – doch was noch beängstigender ist: Die Menschen stehen wie eingefroren herum und können sich nicht mehr bewegen. Wie Wachsfiguren verharren sie auf der Straße und fallen um, wenn der Wind zu stark wird.
Interessant wird die Geschichte dadurch, dass einige wenige Menschen nicht davon betroffen sind: eine Mutter mit Kleinkind, eine ältere Krankenschwester und ein Junge im Krankenhaus, zwei Männer sowie ein 19-Jähriger. Für sie ist das alles ein Albtraum. Denn für das, was passiert ist, haben sie keine Erklärung.
Spannung bezieht die Geschichte auch aus der Handlung. Der 19-Jährige hat sich nämlich schon vor längerer Zeit in ein rothaariges Mädchen verliebt – doch sie ist unter den Erstarrten. Er versucht, die Rothaarige in Sicherheit zu bringen, indem er sie zu ihrem Haus schleppt. Bald taucht jedoch ein bärtiger Mann auf, der das Mädchen verschleppt.
Weiter will ich in den Inhalt der Geschichte hier gar nicht vorstellen – ein auf seltsame Art faszinierendes Buch ist Doris Mayer da jedenfalls gelungen. „365“ lebt neben dem ungewöhnlichen Szenario hauptsächlich von den fünf Hauptcharakteren, die darin auftreten. Die Erzählperspektive wechselt alle paar Seiten von einer Figur zur anderen.
Da gibt es neben dem 19-jährigen Jungen den reichen Brooker im Penthouse, dessen Familie erstarrt ist, und der erkennt, dass er sein Leben falsch geführt hat. Was klischeehaft klingt, wird in dem Buch jedoch plausibel dargestellt. Oder man sieht die veränderte Welt aus der Sicht eines unsympathischen Journalisten, der zuletzt in einem Krisengebiete eingesetzt war. Er wollte gerade seine brisanten Fotos und Informationen bei einer Zeitung an den Mann bringen, als die Welt plötzlich stillstand.
Für die Figuren, die selbst nicht wissen, wie ihnen geschieht, ist des Erstarren der Welt immer wieder Anlass, sich mit ihrem bisherigen Leben auseinanderzusetzen. Fragwürdige und kritische Momente im eigenen Leben werden in Gedanken durchgegangen, Erlebtes im Kopf wiederholt. Genau das haucht „365“ auch die Lebendigkeit ein, die das Buch benötigt, um über das ungewöhnliche Szenario hinaus packend zu bleiben. Das Erstarren der Welt führt dazu, dass die Menschen mit sich selbst Revision halten …
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. „365“ ist ein ungewöhnliches Buch, und auch wenn es vielleicht ab und zu ein klein wenig auf der Stelle tritt: Das Gedankenspiel der Autorin, das auch am Ende nicht aufgelöst wird, geht auf. Doris Mayers Buch packt einen über die letzte Seite hinweg – ja, vielleicht ist der Roman wegen dessen Ende (das hier nicht vorweggenommen werden soll) ein Buch, das eher vom Nachhall als vom Lesen selbst lebt.
Das Szenario von „365“ hat etwas Beunruhigendes – die Wirkung wird auch durch die kurzen, oft unvollständigen Sätze sowie die inneren Monologe der Figuren erzielt –, aber all das wird nicht auf die Spitze getrieben. Deswegen kann man Doris Mayers Roman durchaus etwas älteren Jugendlichen an die Hand geben. „365“ ist einfach mal was anderes … Ein Buch für Leser, die die sich oft wiederholenden Themen in der Jugendliteratur ab und zu mal satt haben und sich nach Neuem umschauen.
(Ulf Cronenberg, 17.08.2010)
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