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Interview mit Gina Mayer über “Recherchieren”

In den letzten Wochen habe ich mit der Schrifstellerin Gina Mayer per E-Mail ein Interview geführt. Da Gina Mayer in Jugend- wie Erwachsenenbüchern häufig historische Stoffe behandelt, wollte ich genauer wissen, wie sie beim Recherchieren für ihre Bücher vorgeht. In dem Interview ging es auch um ihr neuestes Buch „Die verlorenen Schuhe„, das Anfang 2010 im Thienemann erschienen ist und am Ende des Zweiten Weltkriegs in Schlesien spielt.

JBT: Gina, du hast in den letzten Jahren einige Bücher mit geschichtlichem Hintergrund geschrieben – darunter zuletzt “Die verlorenen Schuhe”, das von der Flucht zweier Mädchen aus Schlesien am Ende des Zweiten Weltkrieges erzählt. Wie bist du auf die Idee für dieses Buch gekommen?

Gina Mayer: Eigentlich durch einen Zufall. Ich habe im Fernsehen eine Dokumentation über die Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten 1945 gesehen und war gleichermaßen schockiert und fasziniert. Kurz darauf kam ich ins Gespräch mit einer älteren Dame, die mit sechzehn aus Schlesien geflohen war. „Die Wirklichkeit war ganz anders“, sagte sie zu mir. Das war der Auslöser. In diesem Moment habe ich beschlossen, mehr über diese Wirklichkeit herauszufinden – und dieses Buch zu schreiben.

JBT: Wie viel Zeit hast du denn bei „Die verlorenen Schuhe“ für das Recherchieren gebraucht – kannst du das überschlagen? Und wie bist du da vorgegangen?

Gina Mayer: Ich befürchte, ich arbeite nicht sehr strukturiert, sondern eher chaotisch. Recherche und Schreiben gehen bei mir immer nebeneinander her. Während ich die Zeitzeugen interviewt habe und über den Kriegsverlauf, seine Hintergründe und die Folgen gelesen habe, habe ich schon an Inges und Wandas Geschichte geschrieben. Dadurch musste ich hinterher vieles wieder überarbeiten oder streichen. Aber anders geht es bei mir nicht. Insgesamt habe ich ungefähr ein halbes Jahr lang an dem Buch gearbeitet.

Foto Gina Mayer
Foto: © Sibylle Pietrek, Düsseldorf

JBT: Wo sammelst du die ganzen Informationen, die du zusammenträgst: auf Zetteln, in Computerdateien oder nur im Kopf? Sieht man dementsprechend deine, wie du es beschreibst, eher chaotische Herangehensweise dann auch an deinem Schreibtisch oder in deinem Arbeitszimmer?

Gina Mayer: Ah, deshalb hattest du nach einem Foto von meinem Schreibtisch gefragt …
Das mit der Ordnung ist bei mir eher ein trauriges Kapitel. Weil ich meine Notizbücher immer verliere, kritzele ich Gesprächsnotizen und Recherche-Ergebnisse auf Servietten, Bierdeckel, Quittungen, Visitenkarten, auf die Rückseite von Formularen oder auf Schokoladen- oder Kaugummipapiere. Das Ganze sammelt sich dann auf meinem Schreibtisch, zusammen mit Stapeln von Sekundärliteratur, vollen Kaffeetassen, leeren Weingläsern und Fotos meiner Lieben. Und wenn dann ein Windstoß durch mein Dachfenster fegt … – nein, das wollen wir uns lieber nicht vorstellen.

JBT: Du scheinst das kreative Chaos zu lieben und auch zu brauchen, um schreiben zu können. Geht das dann beim Schreiben des Buches so weiter? Fängst du irgendwo an, ergänzt Teile, baust hier einen Abschnitt ein, löschst dort wieder etwas, etc.? Oder hast du da vorher ein Gerüst, das du dann abarbeitest?

Gina Mayer: Bevor ich anfange zu schreiben, zwinge ich mich immer dazu, eine Inhaltsangabe – ein sogenanntes Exposé – zu verfassen, in dem ich den Ablauf der Geschichte skizziere. Das ist sozusagen das Skelett meines Buchs. Daran halte ich dann auch fest, eine ganze Weile lang jedenfalls. Spätestens in der Mitte des Buches übernehmen dann aber meine Hauptfiguren die Kontrolle und bestimmen den weiteren Verlauf der Ereignisse.
In „Die verlorenen Schuhe“ hatte ich zum Beispiel geplant, dass sich Inge in Dresden in Friedrich Hermenau verliebt. Aber als es soweit war, war Inge einfach nicht interessiert an Friedrich, stattdessen kamen sich aber Wanda und Friedrich sehr nahe … Ich lasse den Dingen dann einfach ihren Lauf, ich komm ohnehin nicht gegen den Willen meiner Protagonisten an.

JBT: Deine Figuren entwickeln sich also beim Schreiben weiter. Aber das ist wahrscheinlich auch das Spannende daran, oder?

Gina Mayer: Ja, sie führen ein Eigenleben. Sie entwickeln sich und wachsen mit den Ereignissen, das ist wirklich faszinierend. Ein bisschen wie mit Kindern. (Aber meine Kinder gehorchen mir leider noch weniger als die Protagonisten in meinen Büchern.)

Foto Gina Mayer
Foto: © Sibylle Pietrek, Düsseldorf

JBT: Welche Quellen verwendest du denn für deine Recherchen? Für „Die verlorenen Schuhe“ hast du u. a. eine Zeitzeugin befragt. Gibt es weitere Quellen, die du häufig zu Rate ziehst?

Gina Mayer: Eine Zeitzeugin? Ich habe insgesamt fünf Live-Interviews geführt, jedes davon viele Stunden lang, außerdem einige Telefon-Interviews. Darüber hinaus habe ich noch viele weitere Zeitzeugenberichte gelesen. Sowohl in gedruckter Form als auch im Internet gibt es da inzwischen ein reichhaltiges Angebot. Wenn ich für ein Buch recherchiere, studiere ich natürlich auch sehr viel Fachliteratur, ich besuche Archive und gehe Experten auf die Nerven. Und um ein Gefühl für die Sprache der Zeit zu bekommen, lese ich nebenher fast nur Romane, die in der Zeit geschrieben wurden, in der mein Buch spielt – bei „Die verlorenen Schuhe“ also Literatur aus den 30-er und 40-er Jahren.

JBT: Aber nur eines der Interviews hat dann als Anhang den Weg ins Buch gefunden … Wie ist das denn mit dem Recherchieren? Ist das eher lästiges Beiwerk für dich oder ein besonders spannender Teil, der zum Buchschreiben dazu gehört?

Gina Mayer: Ich frag mich schon manchmal, warum ich mir ständig Themen aussuche, für die man so elendig viel recherchieren muss. Ich könnte ja auch Fantasy- oder Liebesromane schreiben. Aber nein, ich lande immer wieder bei irgendwelchen historischen oder zeitgeschichtlichen Stoffen, über die ich am Anfang rein gar nichts weiß.
Manchmal ist dieses Suchen und Nachfragen und Im-Nebel-Stochern nervig. Aber meistens ist es eben ungeheuer spannend. Wenn sich Querverbindungen auftun und sich eins zum anderen fügt und man endlich die Zusammenhänge versteht … Und wenn man Leute trifft, die man sonst niemals kennengelernt hätte … Das Schöne ist, dass man am Anfang nie weiß, wo man am Ende ankommt.

JBT: Welchen Stoff hast du dir als Nächsten ausgesucht? Bestimmt etwas, wo du viel zu recherchieren hast …

Gina Mayer: Ja, klar. Ich schreibe ein Jugendbuch über die deutsche Kolonialgeschichte. Die Handlung spielt im Jahr 1900 in Deutsch-Südwest-Afrika – dem heutigen Namibia. Die sechzehnjährige Henrietta reist mit ihrer verwitweten Mutter nach Südwest, zur Missionstation Bethanien. Dort heiratet die Mutter einen Missionar, den sie nur aus Briefen kennt. Die Sache geht fürchterlich schief, die Mutter stirbt, und Henrietta flieht aus Bethanien in die Wüste. Gemeinsam mit dem Kutscher Calvin – einem Nama-Jungen – macht sie sich auf den Weg ins Kapland zu einer befreundeten Missionarsfamilie.
Das Aufregende an diesem Thema ist, dass ich im Juni nach Namibia fliegen werde, um vor Ort zu recherchieren. Ich zähle schon jetzt die Tage und kann es kaum noch erwarten.

JBT: Letzte Frage: Ist es schon mal vorgekommen, dass du nach einiger Zeit des Recherchierens ein Buchvorhaben wieder aufgegeben hast, und wenn ja, warum?

Gina Mayer: Einmal. Ich wollte ein Jugendbuch über Florence Nightingale schreiben, die einige Zeit ganz in meiner Nähe – in Düsseldorf-Kaiserswerth gelebt hat. Aber nachdem ich einiges über und vor allem von Florence gelesen hatte, habe ich das Projekt zu den Akten gelegt. Miss Nightingale war mir einfach zu seltsam und abgedreht, ich fand keinen Zugang zu ihr und zu dem Thema. Aber seitdem spukt sie in meinem Hinterkopf rum, letztens ist sie mir sogar im Traum erschienen. Ich werde sie einfach nicht los. Also – was damals nichts wurde, kann ja noch werden.

JBT: Gina, vielen Dank für das Interview. Und auf das Buch über die deutsche Kolonialgeschichte bin ich schon sehr gespannt. Schade, dass du mich nicht mit nach Namibia nimmst …

Wer mehr über Gina Mayer erfahren will, wird auf ihrer Webseite fündig: http://www.ginamayer.de/.

Die Buchbesprechungen bei Jugendbuchtipps.de zu Gina Mayers Jugendbüchern findet ihr hier.


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Kommentare (0)

  1. Pingback: Jugendbuchtipps.de» Blogarchiv » Buchbesprechung: Gina Mayer “Die verlorenen Schuhe”

  2. Kira

    Ein sehr interressantes Interview … 😉 Ich muss allerdings sagen, dass es nicht weniger aufwendig ist, ein Fantasy-Roman zu planen … Denn während Autoren für historische Romane durch die Gegend fahren und alle möglichen Leute treffen und mit ihnen sprechen etc., muss der Fantasy-Autor sich oft Tage und Nächte lang den Kopf zerbrechen. Denn wenn man einen Fantasy-Roman schreibt, der nicht in dieser Welt spielt, muss doch alles seine Ordnung haben. Es wäre ja ungewöhnlich, wenn ein riesiger Troll in einem Wald leben würde, denn in Bio mussten wir ja alle lernen, dass sich Lebewesen über die Jahrtausende an ihre Umgebung anpassen. Und während Autoren für historische Romane mit Mühe alle informationen aus dieser Zeit sammeln und versuchen, den Zusammenhang zu finden, müssen Fantasy-Autoren mit Mühe Zusammenhänge erschaffen und alles aneinander anpassen. Im Grunde ist es also genau gleich viel Arbeit … 😉 So genug meiner Vorträge.
    LG Kira

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