(Fischer-Verlag 2010, 224 Seiten)
„Waschen, Schneiden, Leben!“, so heißt der Slogan auf der Rückseite des Buches, sozusagen die Kurzzusammenfassung von Marie-Aude Murails neuem Jugendroman. Alles klar? Zumindest macht der Spruch neugierig …
Mit „Simpel“, das 2009 von der Jugendjury mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, ist die Französin Marie-Aude Murail spätestens auch in Deutschland bekannt geworden. Zu meiner Schande – es gibt auch bei mir Bücher, die ich immer lesen wollte, zu denen ich dann aber doch nicht gekommen bin – muss ich anfügen, dass ich „Simpel“ nicht gelesen habe. „Über kurz oder lang“ ist also mein erstes Buch von Marie-Aude Murail.
Inhalt:
Schulisch ist der 14-jährige Louis gerade am Abstürzen – er tut nichts für die Schule, und dementsprechend schlecht sehen auch seine Noten aus. Seinem ehrgeizigen Vater, der ein bekannter und viel beschäftigter Chirurg ist, ist das ein Dorn im Auge, während es Louis nicht so recht juckt. Als die Schüler der neunten Klasse ein einwöchiges Betriebspraktikum machen sollen, ist Louis ratlos, wo er dieses ableisten soll. Seine Großmutter hat die etwas skurrile Idee, dass sie bei ihrer Friseurin nachfragen könnte. Weil Louis nichts Besseres einfällt, stimmt er zu.
Am Dienstagmorgen beginnt das Praktikum im Salon Marielou. Dessen Besitzerin ist ein ältere Dame, die ihre Angestellten oft herumkommandiert. So geht es auch Louis, der anfangs nur Hilfstätigkeiten ausüben darf: Kaffee und Tee kochen, den Boden kehren, Zeitschriften sortieren etc. Mit den Angestellten, ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten, kommt Louis dagegen gut zurecht.
Nach dem ersten Praktikumstag von 9 bis 20 Uhr ist Louis restlos geschafft. Und dennoch entwickelt er so etwas wie Ehrgeiz und will sein Praktikum gut absolvieren. Er macht Verbesserungsvorschläge, wie der Salon mehr Kunden anziehen kann, und muss nicht mehr nur Hilfsarbeiten erledigen. Kurz vor dem Ende des Praktikums ist Louis ziemlich enttäuscht, dass die Woche bald vorbei ist. Er wird den Laden und die Leute darin vermissen – und muss stattdessen wieder in die Schule …
Bewertung:
„Über kurz oder lang“ (Übersetzung: Tobias Scheffel) ist ein etwas seltsames Buch – das merkt man vielleicht schon während des Lesens der Inhaltsangabe. Irgendwie wirkt der Jugendroman etwas von dieser Welt entrückt – ich meine das nicht im Sinn von „weltfremd“, sondern eher im Sinne von „zeitlos“. Das Thema „Was soll ich nur aus meinem Leben machen?“ ist im Jugendbuch beileibe nicht neu, aber Marie-Aude Murail findet eine ganz eigene Antwort darauf, die fast wie ein Bühnenstück oder Gleichnis daherkommt.
Der Grund dafür liegt in den Figuren des Romans: Sie sind besondere Charaktere mit Stärken und Schwächen, mit einer Lebensvergangenheit, die nicht immer leicht war. Da ist Marielou, die Besitzerin des Friseursalons, die bei einem Autounfall ihre Familie verloren hat, oder es gibt Clara, die mit einem gewalttätigen Schlägertypen liiert ist und von ihm weg möchte. All die Figuren werden einerseits, wie sie sich im Friseursalon verhalten, genau beschrieben, andererseits wird von ihrem Lebenshintergrund immer nur andeutungsweise etwas erzählt. Die Folge ist trotz der vielen, nur vagen Andeutungen seltsamerweise, dass die Figuren liebenswert und eindrücklich dargestellt sind. Sie haben ihr Herz auf dem richtigen Fleck.
Die Handlung des Buches erinnerte mich in ihrer Anlage ein wenig an ein Theaterstück. Der Friseursalon ist die Hauptbühne, in der das Leben pulsiert, während die Wohnung von Louis‘ Familie einer der wenigen anderen Nebenschauplätze ist. Mehrere Woche darf man in den Salon Marielou hineinschauen, lernt die Menschen dort kennen, bevor das Buch ein Ende findet.
Zu erwarten war, so wie das Buch angelegt ist, dass Louis am Ende doch noch seinen Weg geht, und die Erfahrungen im Friseursalon sind dafür verantwortlich. Sozusagen Ende gut, alles gut? Ganz so einfach ist es, Gott sei Dank, nicht … Marie-Aude Murail hat dem Buch einen Slapstick-Epilog ans Ende gestellt, der in Zeitraffer das weitere Leben von Louis zusammenfasst. Auch das ist irgendwie gut gemacht – als würde ein Erzähler am Ende des Theaterstücks auf die Bühne treten und berichten, wie es nach der Aufführung im Leben der Figuren weitergeht.
Fazit:
5 von 5 Punkten. Ich hatte kurz vor dem Lesen des Buchs eine nicht unbedingt positive Rezension über Marie-Aude Murails neuen Jugendroman gelesen, und entsprechend kritisch bin ich an das Buch herangegangen. Doch dann habe ich „Über kurz oder lang“ fast in einem Rutsch durchgelesen (am Ostermontag kann man das gut machen!). Nein, mir hat „Über kurz oder lang“ gut gefallen – es ist ein eigenwilliges Jugendbuch, das einen Ton hat, den ich aus keinem anderen Jugendbuch kenne. Und wahrscheinlich ist es genau das, was den einen Leser von dem Buch enttäuscht, den anderen begeistert sein lässt.
Marie-Aude Murails Buch ist für mich jedenfalls eine besondere Variation zum Thema Selbstfindung eines Jugendlichen, der sich durch die Schule quält. Es sind meiner Meinung nach vor allem die liebenswerten, aber vom Leben durchaus nicht immer gut behandelten Figuren, die „Über kurz oder lang“ zu einem sympathischen Buch machen. Sie lassen einen, wenn man das Buch aus der Hand legt, nicht gleich los und bleiben im Gedächtnis haften.
Vielleicht ist es gerade meine Unbedarftheit, weil ich „Simpel“ nicht kenne, die dazu führt, dass ich von Marie-Aude Murails neuem Buch nicht enttäuscht bin. „Über kurz oder lang“ ist alles in allem ein Buch, das mich durch seine liebenswerte und eigenwillige Erzählweise fasziniert hat.
(Ulf Cronenberg, 05.04.2010)
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Ich persönlich finde dieses Buch ebenfalls sehr empfehlenswert, da es spannend, traurig, und lustig zugleich ist.
Zu dem letzten Absatz kann ich nur hinzufügen, dass ich „Simpel“ gelesen habe und trotzdem nicht enttäuscht, im Gegenteil: wieder sehr faziniert von dem besonderem Erzählstil war.
Ein großes Dankeschön für diese tollen Buchtipps.
Viele Grüße, Lydia
Hallo Ulf!
Und ich sage dir: Dieses Buch wird von der Jugendjury zum Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert werden – und möglicherweise auch gewinnen.
Die Bücher von Marie-Aude Murail riechen ganz charmant nach Frankreich – wie „Die fabelhafte Welt der Amelie“. Und dabei schreibt sie in einer griffigen, einfachen Sprache.
Hallo Christoph,
na, dann schauen wir mal, was dieses Mal bei deiner Einschätzung herauskommt. Ich bin mir da nicht ganz so sicher, weil „Über kurz oder lang“ doch in manchem ein nicht nur eingängliches Buch ist.
Viele Grüße, Ulf
Ich glaube nicht, dass das Buch für den Jugendliteraturpreis nominiert wird. Das Ende ist zu ‚happy‘. Es hat fast märchenhafte Züge und hilft Jugendlichen, die in einem ähnlichen Selbstfindungsprozess sind, nicht wirklich weiter. Welche/r Jugendliche/r hat schon die große Begabung für das Frisörhandwerk wie Louis in sich, die er dann nur noch durch eigene Beharrlichkeit herauskitzeln muss? Die Autorin hätte dieses perfekte Ende weglassen sollen. Die problematische Phase der Berufsfindung – Auswahl der Praktikumsstelle etc. – könnte für ’normal begabte‘ Jugendliche eine Hilfe sein.
Ich hatte manchmal Probleme mit den klischeehaften Figuren, aber die gibt es in Frankreich ganz genauso und die Autorin hat alles sehr gekonnt zu einem humorvollen Plot verwoben.
Mein Fazit: Es ist absolut lesenswert, aber nicht unbedingt ein Jugendbuch und es bietet den Stoff für einen Film oder – mit Ulf Cronenberg d’accord – für ein Theaterstück.
Hallo, ist das Buch „Drei für immer“ von Marie-Aude Murail nicht verfilmt worden? Und wie heißt der Film? Gruß aus Köln
xy
Das weiß ich leider nicht – keine Ahnung. Auf die Schnelle habe ich auch nichts im Internet gefunden.
Ich fand das Buch langweilig!
Ich habe beim Lesen des Buches gelacht, mich gefreut, mich erschrocken und habe auch bitterböse geweint. Vielleicht gerade, weil ich nicht Louis‘ Weg gegangen bin und an dem aufgezwungenen Weg später fast zerbrochen wäre.
Ich habe ehrenamtlich heute viel mit Jugendlichen zu tun und finde, dass dieses Buch auf wunderbare Weise Mut macht, seinen eigenen Weg zu gehen, egal, was dann auf einen zurollt. Ein leiser Aufruf zum positiven Widerstand gegen unsere oft daneben liegende angebliche „gute Gesellschaft“ !
Die Jugendlichen wissen heutzutage sehr gut, dass es keinen Märchenverlauf gibt, deshalb finde ich das Ende in keinster Weise problematisch, sondern einen tollen Diskussionseinstieg. Jugendliche sind oft viel erwachsener, als wir es gerne wahrhaben wollen.
Viele Kids wollen z. B. Rapper werden und auch dieser Weg kann durchaus mit viel Geld enden oder in einer sinnlosen Sackgasse. Aber wenn man sich sicher ist – und das sagt das Buch in gewaltigen schönen, aber auch manchmal die Seele zerreissenden Worten -,dann muss man diesen Weg gehen, denn du wirst dich immer fragen, was du hättest erreichen können, wärst du ihn gegangen.
Leider läuft der oft beschriene „sichere Weg“ heutzutage oft in eine gnadenlose Arbeitslosigkeit!
Das Buch macht aber auch glasklar deutlich, wie schwer dieser Weg sein und wie einsam er machen kann. Aber wer weiß denn heute noch, wo seine Schritte morgen enden?
Das Ende des Buches jedenfalls erinnert mich an Endaufzählungen in Nachmittagssendungen (Zwei bei Kallwass u. Ä.), in denen auch immer ein supergutes Ende in alle Richtungen erzählt wird. Das glaubt ja auch keiner und wirkt eher gewollt provozierend. Eine Provokation, die man wunderbar aud dem Buch in eine Diskussion aufnehmen kann.
Ich finde das Buch gerade als Jugendbuch sehr gut, der Jugendliche darf anschließend aber nicht mit seinen Fragen alleine gelassen werden.
Über das Buch hab ich in meine Abschlussprüfung geschrieben und dadurch meinen Abschluss bekommen. Fast 15 mal habe ich das Buch da gelesen habe und für mich, nicht als ich gelernt habe, ist es gar nicht so schlecht.