(Bloomsbury-Verlag 2010, 122 Seiten)
Im Jahr 2008 war Andreas Schendel in der Sparte Jugendbuch mit „Dann tu’s doch“ für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Das war damals das erste Mal, dass ich auf den Autor aufmerksam wurde. Den Jugendliteraturpreis hat dann jedoch Meg Rosoff für „Was wäre wenn“ bekommen.
Meines Wissens hat Andreas Schendel seitdem keinen Jugendroman veröffentlicht. Doch nun ist mit „Virág oder wenn die Welt verrutscht“ ein neues Jugendbuch des Autors herausgekommen. Dass in dem Buch das Land Ungarn eine Rolle spielt, liegt wohl darin begründet, dass Andreas Schendel zeitweise auch in Budapest (ansonsten in Dresden) lebt.
Inhalt:
Virágs Mutter ist Ungarin, und ihr deutscher Vater hat seine Frau als Busfahrer auf einer Fahrt nach Ungarn kennen gelernt. Die Familie wohnt in Deutschland, doch Virágs Großmutter, an der das Mädchen sehr hängt, lebt noch in Budapest. Auch Virágs Name stammt aus dem Ungarischen und heißt auf Deutsch „Blume“.
Die guten Zeiten in der Ehe von Virágs Eltern sind vorbei. Ihr Vater ist arbeitslos, trinkt zu viel und hängt den Großteil des Tages zu Hause herum, während seine Frau arbeitet. Entsprechend viel Streit gibt es zwischen Virágs Eltern. Dass Virágs Vater zwar ihr gegenüber immer humorvoll und gut gelaunt aufzutreten versucht, hilft da nur wenig.
Als Virág elf Jahre alt wird, kauft der Vater ihr eine viel zu teure Digitalkamera, und als Virágs Mutter das herausbekommt, kochen die Streitigkeiten zwischen den beiden so richtig hoch. Das Mädchen hält das alles nicht mehr aus, hat jedoch niemanden, mit dem sie darüber sprechen kann. Virágs Welt wankt und kurz darauf macht sie immer wieder seltsame Dinge. Als sie sich in der Schule ausgerechnet an ihrer besten Freundin festklammert und sie nicht mehr loslässt, bis diese Angst bekommt, wird das Mädchen in eine kinder- und jugendpsychiatrische Klinik eingeliefert.
Bewertung:
„Virág oder wenn die Welt verrutscht“ ist ein dünnes Bändchen, das mit den Polaroid-Fotos von Anne-Theresa Wittmann, die die Buchinnenseiten sowie die jeweils letzten Seiten jeden Kapitels zieren, besonders hübsch gemacht ist. Was die Geschichte angeht, so kommt sie eher auf leisen Sohlen daher. Andreas Schendels Buch lebt weniger von einer spannenden Handlung als von dem Zwischenmenschlichen, das in dem Roman beschrieben wird. Behutsam wird dargestellt, wie Virág sich in eine psychische Erkrankung flüchtet, weil sie es mit ihren Eltern nicht mehr aushält.
Das Besondere an Andreas Schendels Buch ist dessen zarter und poetischer Ton. In eher kurzen Sätzen, aber trotzdem sprachlich abwechslungsreich und virtuos ist dieses Buch geschrieben. Das erfordert einen aufmerksamen und immer wieder auch etwas geduldigen Leser – doch man muss zugleich immer wieder staunen, wie Andreas Schendel die Lebenswelt Virágs in Worte fasst. Dass man ab und zu auch mal über die ein oder andere Formulierung stolpert, gehört schon fast dazu. Aber wer mit einem so eigenen Stil wie Andreas Schendel schreibt, provoziert das auch.
Es gab eine Sache, die mich an dem Buch jedoch etwas irritiert hat: Über weite Strecken des Buches hatte ich nicht ein 11-jähriges Mädchen, sondern eine ältere Jugendliche vor Augen. Vielleicht hat das Buchcover, auf dem eindeutig ein älteres Mädchen abgebildet ist (warum eigentlich?), mich auf die falsche Fährte gesetzt – aber es muss auch etwas am Schreibstil gewesen sein, das mich ebenfalls in diese Richtung gelenkt hat. So ganz ist bei mir diese nicht ganz stimmige Passung zwischen dem angegebene Alter von Virág und dem gefühlten Alter der Hauptperson bis zum Ende nicht weggegangen. Doch letztendlich hat mich das nicht wirklich gestört.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. „Virág oder wenn die Welt verrutscht“ ist ein stilles, ein leises Buch, das sprachlich einfühlsam die Lebenssituation eines 11-jährigen Mädchens beschreibt, das in schwierigen Familienverhältnissen lebt und damit nicht zurecht kommt. An dem Buch haben mir vor allem dessen äußere Aufmachung und sein Sprachstil gefallen – die Geschichte ist jedoch sicher nichts für Jugendliche, die von einem Buch eine packende Handlung erwarten.
„Virág“ ist eher das stille Panorama einer unterschwellig konfliktreichen Familiensituation, die aus Sicht einer 11-Jährigen beschrieben wird. Im Mittelpunkt stehen die Gefühle Virágs – zuerst zu Hause, dann in der psychiatrischen Klinik. Am Ende steht für Virág kein Happy End, aber zumindest ein Hoffnungsschimmer. Das Mädchen begreift langsam, was in ihrem Leben vorgeht. Und nachdenklich legt man das Buch dann nach der letzten Seite auch aus der Hand …
(Ulf Cronenberg, 27.03.2010)
Als kleine Zugabe noch ein Foto, das ich heute Morgen beim Lesen des Buchs gemacht habe und das einen kleinen Eindruck von dessen Gestaltung gibt:
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Hei Ulf, gute Besprechung, passt, finde ich. Endlich mal wieder ein literarisch anspruchsvolleres Buch ohne „action“ und wahrlich schön gestaltet.
Deine „Probleme“ mit dem Alter hatte ich nicht. Auf dem Cover sieht man vom Gesicht nur die Augen, so dass man eigentlich gar nicht sagen kann, wie alt das Mädel auf dem Foto ist. Der Verlag gibt „ab 12“ als Empfehlung, dem schließe ich mich an, denn ich finde die Art der Reflexionen des Mädchens und wie sie die Ereignisse daheim begreift oder eben nicht einordnen und bewältigen kann, doch noch eher kindlich als jugendlich.
Liebe Grüße, Britta
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