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Buchbesprechung: Cory Doctorow “Little Brother”

Cover DoctorowLesealter 15+(rororo 2010, 473 Seiten)

Wendet man den Buchdeckel von „Little Brother“, so wird man gleich mit einer ellenlangen Liste von Auszeichnungen, die das Buch im Original bekommen hat, konfrontiert. Anscheinend hat Cory Doctorows Roman nicht wenige Preise eingeheimst. Auf dem Cover werden außerdem Neil Gaiman und Scott Westerfeld zitiert, die das Buch empfehlen. Über solche Lobhudeleien vorab mag man geteilter Meinung sein …

Und worum geht es in dem Buch? Der Titel „Little Brother“ ist kein Zufall, denn das Buch lehnt sich an George Orwells „1984“ an. Dessen bekannter Spruch „Big brother’s watching you“ ist zu einer Art Synonym für den Überwachungsstaat geworden. Cory Doctorows Buch will zeigen, wie ein Überwachungsstaat heute aussehen könnte.

Inhalt:

Marcus ist 17 Jahre alt, und mit seinen Freunden Darryl, Jolu und Van nimmt er begeistert an ARG-Spielen (Alternate Reality Game) teil. Nebenbei ist er auch als Hacker unterwegs, und in der Schule bekommt Marcus Schwierigkeiten, weil ihm von der Schulleitung vorgeworfen wird, das Sicherheitssystem der Schule gehackt zu haben. Doch die Vorwürfe der Schulleitung sind von einem auf den anderen Tag vergessen, als in San Francisco etwas Schlimmes passiert.

Mit seinen Freunden ist Marcus gerade in Sachen ARG in der Stadt unterwegs, als es einen lauten Knall, gefolgt von einer Druckwelle gibt. Unter den Menschen auf der Straße bricht Panik aus, kurze Zeit darauf hört man Hunderte von Sirenen. Eine Behörde namens DHS, die Heimatschutzbehörde, verhaftet viele der Schutz suchenden Leute in der Nähe der Explosion – angeblich um den Terroristen, die die Bombe gelegt haben, auf die Spur zu kommen. Darunter sind auch Marcus und seine Freunde. In einem großen LKW werden sie gefesselt in ein Gefängnisgebäude auf einer Insel gebracht und dort verhört.

Marcus wehrt sich, so gut es geht, indem er nichts preisgibt und nach einem Anwalt verlangt. Doch die Verhöre werden immer massiver, und die Verteidigung durch einen Anwalt wird ihm nicht gestattet. Die Heimatschutzbehörde weiß anscheinend von seiner Hacker-Identität und will, dass er das Passwort für die verschlüsselten Daten seines Handys herausrückt. Nach mehreren Tagen im Gefängnis gibt Marcus, der die Schikanen nicht mehr aushält, nach und wird schließlich freigelassen – nicht ohne den Hinweis, dass er ab sofort unter ständiger Beobachtung des DHS stehe.

Erst nach seiner Freilassung erfährt Marcus Genaueres über die Explosion, bei der in San Francisco eine Brücke – angeblich von islamischen Terroristen – gesprengt wurde. Polizei- und Sicherheitsbehörden wie die DHS spielen verrückt. Wie viele andere will Marcus jedoch nicht der Willkür der Behörden und dem Entzug grundlegender Persönlichkeitsrechte tatenlos zusehen, und er versucht den Widerstand gegen die Überwachung zu organisieren, indem er seine Hacker-Kenntnisse einsetzt und ein abhörsicheres Betriebssystem für die XBox Universal in Umlauf bringt. Doch die Gefahr, entdeckt zu werden, wird immer größer …

Bewertung:

In „Little Brother“ spielt Cory Doctorow ein Überwachungsstaat-Szenario so durch, wie es heute aussehen könnte. Ein terroristischer Anschlag führt in dem Buch dazu, dass jeglicher Datenschutz und sonstige Persönlichkeitsrechte außer Kraft gesetzt werden – Dinge, die man durchaus immer wieder in den letzten Jahren (Stichwort: Guantanamo-Lager der USA) in den Medien lesen und sehen konnte. Das Buch wendet sich gegen eine völlig überzogene Überwachung und die Aufgabe von Freiheitsrechten, wie sie in den Verfassungen westlicher Demokratien stehen, indem es durch einen fiktiven Roman die schlimmen Folgen solcher Praktiken aufzeigt.

„Little Brother“ könnte man als einen Computer-Thriller bezeichnen, denn das Buch ist spannend – fast von der ersten Seite an. Geschickt wird der Plot aufgebaut. Es kann nicht schaden, wenn man ein wenig Computerkenntnisse mitbringt, letztendlich ist das jedoch nicht Bedingung, um die Handlung nachvollziehen zu können. Cory Doctorow bemüht sich, die technischen Dinge auch für Laien einigermaßen nachvollziehbar zu machen.

Neben den Thriller-Elementen hat mir an „Little Brother“ gefallen, dass das Buch eine nahe Zukunft durchspielt, die letztendlich nicht so fern ist, wie es vielleicht scheint. Wir sind umgeben von Überwachungskameras – was man damit alles machen kann, davon bekommt man durch das Buch (auch durch die beiden Nachworte von Fachkundigen) eine Ahnung.

An die sprachliche Dichte von George Orwell reicht Cory Doctorow ganz sicher nicht heran – diesen Vergleich muss sich das Buch, wenn es schon mit „1984“ als Vorbild spielt, gefallen lassen. Cory Doctorows Buch ist solide, aber nicht unbedingt aufsehenerregend erzählt und von Uwe-Michael Gutzschhahn übersetzt. Es sind einige Nachlässigkeiten im Lektorat, die mich etwas gestört haben. Mal wird XNet mit, mal ohne Bindestrich geschrieben, Nebensätze wie „was mich echt peinlich ablenkte“ (S. 159) gehören überarbeitet. Das sind eher kleinere Ausrutscher, aber sie müssen trotzdem nicht sein.

Fazit:

4 von 5 Punkten. „Little Brother“ ist in jedem Fall eine Empfehlung wert – und zwar, weil das Buch spannend, aber auch weil es politisch engagiert ist. Viel zu lax gehen die meisten Menschen meiner Meinung nach heute mit den Themen Datenschutz und Persönlichkeitsrechten um und wissen zu wenig von den Gefahren für die Freiheit – Cory Doctorows Buch mag einige Leser wachrütteln, nicht tatenlos zuzuschauen, wie diese Werte einer Demokratie zunehmend durch technische Möglichkeiten sukzessiv abgebaut werden. In „Little Brother“ mag einiges leicht übertrieben dargestellt worden sein, aber letztendlich gibt es all die geschilderten Möglichkeiten der Überwachung längst – sie werden nur bisher nicht mit dieser Systematik flächendeckend eingesetzt. Noch nicht?

Literarisch ist „Little Brother“ keine Offenbarung, sondern ein gut geschriebener Thriller – ein bisschen wundere ich mich von daher schon über die zahllosen Preise, mit denen das Buch überschüttet wurde. Aber was soll’s: Lesenswert ist das Buch trotzdem!

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(Ulf Cronenberg, 17.02.2010)

Nachtrag 20.02.2010:
Da liest man ein Buch, in dem die Schüler auch mit Hilfe von Laptops ausspioniert werden, und meint, dass es ganz so schlimm derzeit ja noch nicht ist – und ein paar Tage später geht diese Nachricht durch die Medien. So fern scheint manches in Cory Doctorows Buch also doch nicht zu sein.


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