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Buchbesprechung: Gina Mayer “Die verlorenen Schuhe”

Cover MayerLesealter 14+(Thienemann-Verlag 2010, 354 Seiten)

Da ist man gerade auf Seite 353 und blättert weiter, um dann auf der übernächsten Seite die Überschrift „Ein Nachwort“ zu lesen. So ging es mir bei Gina Mayers neuestem Buch „Die verlorenen Schuhe“, das recht abrupt endete. Ich hatte vorher nicht gesehen, dass am Ende außer dem Nachwort noch das Interview mit einer Frau, die als 11-Jährige aus Schlesien fliehen musste, sowie ein umfangreiches Glossar abgedruckt sind.

Das Thema des Buches ist damit auch schon indirekt benannt: Gina Mayer schreibt (übrigens erstmals im Thienemann-Verlag) über die Vertreibung eines Mädchens aus Schlesien, das am Ende des Zweiten Weltkrieges von der russischen Armee besetzt wurde.

Inhalt:

Inge lebt mit ihren Eltern auf Gut Hohenau in Schlesien, und lange ist der Hof von den großen Wirren des Zweiten Weltkrieges im Wesentlichen verschont geblieben. Verändert hat sich vor allem, dass fast alle Männer, darunter auch die auf dem Gut arbeitenden Knechte, zum Krieg eingezogen wurden und stattdessen vor allem polnische Zwangsarbeiter auf Hohenau arbeiten.

Im Winter 1944/45 verdichten sich die Anzeichen dafür, dass der Krieg bald ein Ende finden wird – auch wenn im Radio weiterhin die deutschen Parolen vom baldigen Sieg verbreitet werden. Doch unter der Hand wird zunehmend gemunkelt, dass die russische Armee kurz davor ist, Schlesien einzunehmen. So richtig will das niemand noch niemand wahr haben – zumal es viele gibt, die sich vor den russischen Soldaten fürchten.

Als Inge eines Tages von der Schule in einer nahegelegenen Stadt nach Hause kommt (ihr Vater wurde kurz zuvor doch noch als Soldat in den Krieg geschickt), muss sie feststellen, dass der Hof verlassen ist. Die in der Umgebung von Gut Hohenau lebenden Deutschen haben den Befehl erhalten, sofort das Land zu verlassen. Inge ist von ihren Eltern getrennt, und plötzlich steht das eher behütet aufgewachsene Mädchen alleine da und muss Hals über Kopf aus ihrer Heimat fliehen.

Mit Wanda, einer polnischen Zwangsarbeiter, die sie nicht sonderlich gut leiden kann, packt Inge schnell ein paar Sachen zusammen, und dann machen sich die beiden – voller Misstrauen der jeweils anderen gegenüber – auf den Weg. Auf einem Karren, der von einem alten Gaul gezogen wird, schlagen sie den Weg in Richtung Westen ein. Doch wohin sie auch kommen: Überall finden sie nur Menschen in Not, die frieren und kaum etwas zu essen haben … Inge ist am Verzweifeln, macht sich Sorgen um ihre Eltern und steht mehrmals kurz davor aufzugeben. Nur mit Hilfe von Wanda, die schon viel Schlimmes mitgemacht hat, hält sie durch …

Bewertung:

„Die verlorenen Schuhe“ ist nicht nur ein Buch über die beschwerliche Flucht aus Schlesien, sondern auch ein Roman über eine ungewöhnliche Freundschaft. Inge und Wanda – was für ein ungleiches Paar die beiden anfangs doch sind. Hier die Tochter aus gutem Hause, dort das Mädchen, das schon vor längerer Zeit ihre Heimat im polnischen Krakau hinter sich lassen musste, um als Zwangsarbeiterin auf Gut Hohenau zu arbeiten. Die beiden können sich anfangs überhaupt nicht ausstehen, sind jedoch durch die Flucht aufeinander angewiesen. Und es dauert lange, bis sie einander vertrauen lernen und schließlich feststellen, dass sie gar nicht so verschieden sind. Es sind insbesondere die beiden Hauptfiguren, die das Buch lebendig machen.

Gina Mayer findet in ihrem Buch genau den richtigen Ton, mit dem man für Jugendliche über diese grausame und schlimme Zeit der Flucht aus den östlichen Gebieten des Deutschen Reiches erzählen sollte. Die Gratwanderung, einerseits die Schrecklichkeit dieser Zeit zu schildern, andererseits Jugendliche damit nicht zu überfordern, gelingt in meinen Augen sehr gut. Natürlich gibt es Szenen, wo Inge und Wanda auf ihrer Flucht Schlimmes erleben – sei es ein junger Soldat, der aufgehängt wurde, oder die Begegnung mit russischen Soldaten auf einem verlassenen Hof. Doch auch solche Szenen werden behutsam geschildert.

Auch die Sprache im Buch ist stets einfühlsam und nie – wie sich das für das Thema gehört – auf Effekte bedacht, sie bleibt gekonnt im Hintergrund. Vielleicht gerade deswegen kann man sich sowohl in Wanda als auch in Inge stets gut hineinversetzen. Als Leser spürt man das Leid, die zunehmende Verzweiflung, aber auch jeden kleinen Hoffnungsschimmer, den Inge und Wanda im Inneren erleben. Gekonnt werden in den Erzählfluss immer wieder Rückblenden eingebaut, in denen Inge und Wanda Wichtiges aus ihrem früheren Leben erzählen. Ganz nebenbei erfährt man dabei einiges über die Zeit des Zweiten Weltkrieges.

Wer die Einleitung zu dieser Buchbesprechung aufmerksam gelesen hat, mag vielleicht schon den einzigen Kritikpunkt herausgehört haben, der meiner Meinung nach angeführt werden kann: Das Ende des Buches kommt etwas sehr plötzlich. Es ist nicht so, dass ich etwas gegen einen offenen Schluss habe (ein solches Buch kann man wohl auch gar nicht anders abschließen) – aber vielleicht wäre eine etwas behutsamere Hinführung an das Ende der Geschichte eben doch möglich gewesen?

Fazit:

5 von 5 Punkten. Der kleine genannten Kritikpunkt soll nicht übermäßig stark gewichtet werden: „Die verlorenen Schuhe“ ist alles in allem ein gelungenes Buch, das Jugendlichen sehr behutsam ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte näher bringt. Der Schrecken der Flucht wird deutlich und nachfühlbar (auch wenn er für viele in der Realität noch schlimmer gewesen sein dürfte), als jugendlicher Leser wird man dabei an die an die Hand genommen und mit Bedacht durch die Geschichte geführt. Die Entwicklung, die Inge und Wanda im Laufe des Buches vollziehen, wird psychologisch nachvollziehbar dargestellt.

Letztendlich ist „Die verlorenen Schuhe“ – von meinen kleinen Bedenken in Bezug auf den Schluss abgesehen – ein stimmiger und runder Jugendroman, der sprachlich und erzählerisch sachte, zugleich gekonnt umgesetzt wurde. Dem Buch werden sicher nicht nur Jugendliche (bevorzugt Mädchen), sondern auch Erwachsene einiges abgewinnen können – da bin ich mir sicher.

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(Ulf Cronenberg, 01.02.2010)

Ein Interview mit Gina Mayer, das ich im Frühjahr 2010 geführt habe und in dem es auch um ihr Buch „Die verlorenen Schuhe“ geht, findet ihr übrigens hier.


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