(Bloomsbury-Verlag 2009, 268 Seiten)
Ein vierblättriges Kleeblatt (soll Glück bringen) und ein Mädchen, das einem mit muschelförmigen Zöpfen entgegen schaut. Was soll man von einem solchen Buch – noch dazu mit dem langen Titel „Das ganz normale Leben der Sasha Abramowitz“ – halten? Zumindest ist das kein 0815-Cover, und das Mädchen, das einen eher ernst anguckt, verspricht seltsamerweise eher ein witziges als ein trauriges Buch – oder? Und so ist es auch. Eine 11-Jährige beschreibt den ganz normalen Wahnsinn in ihrer etwas ungewöhnlichen Familie.
Inhalt:
Sasha hat Eltern, die beide am Krieger College lehren: Ihre Mutter forscht im Bereich des menschlichen Gehirns, während Sashas Vater Englisch unterrichtet und selbst Bücher schreibt. Zur Familie gehört neben einem dreibeinigen Hund außerdem Danny, Sashas älterer Bruder, der jedoch in eine Heimschule geht, seit bei ihm das Tourette-Syndrom festgestellt wurde. Und zu Hause ist immer viel los, weil Sashas Eltern auf dem Campus des Colleges leben und sich um die dort wohnenden Studenten kümmern.
Regelmäßig hat Sasha Termine bei einem Psychologen: Dr. Lambert Ascher, den das Mädchen aber meist nur „die Labertasche“ nennt. (Der Spitzname leitet sich übrigens davon ab, dass man vom Namen des Psychologen die richtigen Buchstaben wegstreicht.) Die Labertasche jedenfalls fragt Sasha immer über ihr Leben und ihre Gefühle aus – insbesondere über die unterdrückte Wut ihrem Bruder gegenüber. Doch die gescheite Sasha weiß dem meist zu begegnen und spielt das Spiel manchmal mit, oft aber auch nicht.
Brenzlig wird es für Sasha immer, wenn sie alle 14 Tage mit ihren Eltern zur Schule ihres Bruders fährt – so ganz unbedarft tritt sie ihrem Bruder jedenfalls nicht gegenüber. Als das Wohnheim der Schule abbrennt, lebt Danny auf einmal wieder zu Hause. Sasha freut sich nicht gerade darüber – noch dazu, wo ihr Leben gerade spannend ist, u. a. weil ihre Klasse in der Schule mit ihrer neuen Lehrerin, die früher Sashas und Dannys Babysitterin war, ein Theaterstück aufführen will.
Bewertung:
Was kann man auf der Webseite des Bloomsbury-Verlags über Sue Halperns Buch lesen? „John Irving für Jugendliche: eine skurrile Familiengeschichte voller Intelligenz, Wärme und Humor.“ Das ist wohl eher eine Beschreibung, die Erwachsene verstehen. John Irving ist ein amerikanischer Autor, der dicke und witzige Bücher (die bekanntesten sind wohl „Garp“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ – beide auch verfilmt) mit seltsamen Begebenheiten geschrieben hat, die mir zumindest immer gut gefallen haben. Kinder und Jugendliche, für die Sue Halperns Buch gedacht ist, dürften John Irving wohl nicht kennen …
„Das ganz normale Leben der Sasha Abramowitz“ ist als Tagebuch angelegt. Das 11-jährige Mädchen berichtet, was in ihrem Leben passiert – und dass man da ein neunmalkluges Mädel vor sich hat, bemerkt man schon nach ein paar Seiten. Frei von der Leber plaudert Sasha über alles, was in ihrem Leben los ist, und insbesondere die kleinen Macken der Erwachsenen (z. B. ihrer Eltern oder der Studenten) entlarvt das Mädchen ganz nebenbei. Auf „die Labertasche“ hat es Sasha dabei ganz besonders abgesehen. Wenn sie von den Sitzungen mit ihrem Psychologen berichtet, wie die beiden sich kleine Gefecht liefern (wer führt hier wen hinters Licht?), muss man immer wieder grinsen.
Unbeschwert – so könnte man dieses Buch nennen. Sue Halpern gelingt es gut, den Ton einer klugen 11-Jährigen zu treffen. Geschickt verpackt die Autorin in ihrem Buch, was es heißt, einen Bruder zu haben, der am Tourette-Syndrom leidet. Man spürt, dass das für Sasha nicht leicht ist, dass sie sich für ihren Bruder schämt und auf ihn wütend ist. Aber diese Dinge werden nicht mit der Brechstange, sondern ganz nebenbei thematisiert. Und das ist auch gut so …
Dass die Geschichte am Ende – nach einigen Wirrungen natürlich – gut ausgeht, ist sicherlich sinnvoll, wenn man 11- und 12-Jährige als Zielgruppe vor Augen hat. Für Erwachsene ist das vielleicht etwas zu schön, um wahr zu sein – aber zu einem Kinderbuch passt das in jedem Fall.
Fazit:
5 von 5 Punkten. Sue Halperns Buch ist kurzweilig, es ist witzig und liest sich schnell – und damit zählt es eindeutig zu den besseren Kinderbüchern, die ich dieses Jahr gelesen habe. Was mir vor allem gefallen hat, ist, dass in „Das ganz normale Leben der Sasha Abramowitz“ ein nicht ganz einfaches Thema, der Umgang mit einem behinderten Jungen in einer Familie, behandelt wird, ohne dass das Buch dadurch zu einem schwer beladenen Problembuch wird. Nein, Sue Halperns Buch bleibt durchwegs frisch und unbekümmert, weil es konsequent alles aus der Sicht einer 11-Jährigen erzählt. Ja, und selbst der neunmalkluge Ton von Sasha – auch hier wurde nicht gepatzt – hat mich als Leser weder genervt noch hat er sich irgendwann totgelaufen.
Der Altersbereich, in dem man dieses Buch lesen sollte, ist aus meiner Sicht eher eng zu setzen: Zwischen 10 und 12 Jahren würde ich sagen. Ältere Jugendliche dürften von dem Buch wegen des kindlichen Tons eher genervt sein. Aber für jüngere Leser ist „Das ganz normale Leben der Sasha Abramowitz“ eine durchaus empfehlenswerte Lektüre – eher für Mädchen als für Jungen.
Ältere Jugendliche, die etwas über das Tourette-Syndrom erfahren wollen, greifen besser zu „Landeplatz der Engel“ von Frank M. Reifenberg, einem meiner Lieblingsjugendbücher.
(Ulf Cronenberg, 16.12.2009)
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