(S. Fischer-Verlag 2009, 436 Seiten)
Es gibt Bücher, für die braucht man Durchhaltevermögen. Und Reif Larsens „Die Karte meiner Träume“ ist so ein Buch, das man nicht mal nebenbei durchschmökert. 436 Seiten – das klingt nach nicht allzu viel. Aber neben dem eigentlichen Buchtext findet man in dem Buch Hunderte von Nebenbemerkungen und Zeichnungen, und es kostet Zeit, das alles durchzuackern.
Ob sich das lohnt? Lest einfach weiter … – ein außergewöhnliches Buch ist Reif Larsens Roman in jedem Fall. Das sei schon verraten.
Inhalt:
12 Jahre ist T. S. Spivet alt, und der Junge, der alles in Karten und Zeichnungen festhält, lebt mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester Gracie auf einer Farm in Montana. Seltsame Eltern hat T. S., wie der Junge meist nur genannt wird (das Kürzel steht übrigens für die eigentümlichen Namen Tecumseh Sparrow): Seine Mutter, die T. S. immer nur Dr. Claire nennt, ist Wissenschaftlerin und sucht seit vielen Jahren – bisher vergeblich – nach dem Tigermönchkäfer. T. S.‘ Vater dagegen ist Rancher mit Leib und Seele und hat mit den wissenschaftlichen Dingen seiner Frau wenig am Hut. Die Familie hat Schlimmes hinter sich, denn bei einem Unfall hat sich T. S.‘ Bruder Layton selbst beim Reinigen eines Gewehrs aus Versehen erschossen, und T. S., der bei dem Unfall dabei war, gibt sich noch immer die Schuld, dass es dazu kommen konnte.
Eines Tages bekommt T. S. einen seltsamen Anruf aus Washington. Dem Jungen sei für seine Zeichnungen der hoch dotierte Baird-Preis verliehen worden. Er solle doch in drei Tagen nach Washington zur Preisverleihung kommen. T. S. sagt jedoch ab – auch deswegen, weil wohl niemand weiß, dass hinter dem Namen T. S. Spivet, unter dem er in Fachmagazinen und Wissenschaftsbüchern Karten veröffentlicht hat, ein 12-Jähriger steckt.
Doch schon kurz darauf besinnt sich T. S. und er beschließt, sich auf eigene Faust, ohne jemandem davon zu erzählen, auf den Weg nach Washington zu machen. Er packt seinen Koffer und schleicht sich früh am Morgen des nächsten Tages auf und davon, um als Hobo auf einen Güterzug aufzuspringen, der ihn in die US-Hauptstadt bringen soll.
Als geringstes Problem erweist es sich noch, den Zug zum Halten zu bringen und unbemerkt auf einen Güterwaggon aufzuspringen. Schon bald kommen viele weitere Schwierigkeiten dazu – T. S. befürchtet ständig, von der Bahnpolizei entdeckt zu werden. Doch irgendwie gelingt es ihm, den Gefahren immer wieder auszuweichen und seinem Ziel näher zu kommen …
Bewertung:
Ja, Durchhaltevermögen benötigt nicht nur T. S., um nach Washington zu gelangen, sondern man benötigt es auch als Leser für dieses Buch, das ziemlich eindrücklich beginnt. „Die Karte meiner Träume“ hat einen Sprachstil, der sehr intensiv und wortreich ist und der mich auf den ersten Seiten gleich gefangen genommen hat. Doch nach 100 Seiten habe ich bemerkt, dass ich das Buch etwas ermüdend fand. Das lag nicht nur daran, dass die Handlung ein wenig stockte, sondern hatte seinen Grund auch darin, dass dieses Buch mit den vielen kleingedruckten Notizen und Zeichnungen am Rande hart erlesen werden muss. Nach 150 Seiten habe ich das Buch erst einmal zur Seite gelegt, weil ich dringend anderes zu lesen hatte.
Vier Wochen später habe ich mir das Buch dann erneut vorgenommen und war froh, dass ich auch gleich wieder hineingefunden habe. Und je weiter ich gekommen bin, umso interessanter fand ich Reif Larsens Roman – ja, er hat mich sogar richtig gepackt. Das lag unter anderem daran, dass ab Seite 170 eine längere Nebengeschichte eingewoben ist, die ihren ganz besonderen Reiz hat: T. S. hat bei seiner Abreise ein Notizheft seiner Mutter mitgenommen, das er auf der langen Zugfahrt liest. Die Geschichte von T. S.‘ Urgroßmutter, die Dr. Claire aufgeschrieben hat, hat eine ganz eigene Sogwirkung.
Erzählt wird hier von dem Mädchen Emma, das nach dem Tod ihres Vaters einen wissenschaftlichen Mentor namens Mr Englethorpe kennen lernt und sich mit dem verschrobenen Mann zusammen wie besessen dem Studium der Biologie zuwendet. Ganze Tage verbringen sie im Garten von Mr Englethorpe und erkunden Pflanzen und Tiere, bis Emma schließlich ein Studium aufnimmt und so etwas wie eine am Ende doch scheiternde Vorreiterin der Emanzipation wird, weil bis dahin keine Frau je eine Professur verliehen bekommen hat. Diese Nebengeschichte ist in meinen Augen noch eindrücklicher erzählt als der Rest des Buches, und es war eine Freude, darin abzutauchen.
Abb.: Eine der schön gestalteten Seiten aus Reif Larsens Buch (zum Vergrößern draufklicken!)
Doch als nach gut 100 Seiten die Geschichte um Emma endet, wird die Story um T. S.‘ Reise und Ankunft in Washington zum Glück auch immer spannender – sie verliert ein wenig von dem neunmalklugen Ton, der das Buch auf den ersten zweihundert Seiten manchmal etwas anstrengend macht. Reif Larsen übertreibt es nämlich ab und zu mit seinen hochkomplexen Beschreibungen, die ich als etwas selbstverliebt bezeichnen würde.
Doch letztendlich ist das Buch dann doch stimmig – auch was die Sprache angeht. Schließlich handelt das Buch von einem Wunderknaben, der mit 12 Jahren durch seine Zeichenbegabung großes Aufsehen erregt, dabei im Inneren zugleich auch immer ein liebesbedürftiger Junge bleibt, der am Ende feststellt, dass er die Ranch in Montana und seine Eltern mehr vermisst, als er gedacht hätte.
Fazit:
5 von 5 Punkten. Für „Die Karte meiner Träume“ braucht man Geduld und Zeit, denn das Buch ist mit den Randzeichnungen und -bemerkungen ein dicker Schmöker, der durch seine Detailverliebtheit aber auch etwas ganz Besonderes ist. Liebevoll gestaltet ist dieses Buch in jedem Fall – man könnte sagen, dass man da ein wirkliches Schmuckstück vor sich hat. Der Typografie-Preis unter den Jugendbüchern geht damit in diesem Jahr eindeutig an den Fischer-Verlag. (Platz 2 gebührt übrigens dem Thienemann-Verlag für Ann Dee Ellis‘ “Es.Tut.Mir.So.Leid.”)
Für meine nicht mehr ganz jungen Augen, das muss allerdings auch gesagt werden, war das Buch oft schwer zu lesen – die Randnotizen sind in sehr kleiner Schrift gedruckt. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen – den Tipp hatte ich für das Buch bekommen –, erst einmal die Geschichte ohne die Randnotizen und Zeichnungen zu lesen. Doch man bleibt einfach immer wieder daran hängen – zumal die Randanmerkungen durchaus auch etwas zum Verstehen der Geschichte beitragen, zudem oft auch liebe- und humorvoll sind.
Reif Larsens Buch ist etwas ganz Besonderes – das steht außer Zweifel. Schwer tue ich mich jedoch mit der Frage, wem man diesen Roman empfehlen soll. Für sehr junge jugendliche Leser dürfte das Buch allein vom Sprachstil her zu anstrengend sein. Von daher würde ich das Buch am ehesten Jugendlichen ab 14 Jahren, die allerdings einiges an Leseerfahrung mitbringen sollten, an die Hand geben. Aber auch Erwachsene dürften an der Geschichte um T. S. durchaus Gefallen finden.
(Ulf Cronenberg, 13.12.2009)
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Hallo!
Ich habe mir aufgrund dieser Rezension ‚Die Karte meiner Träume‘ zum Geburtstag gewünscht und bin total begeistert. Durch die vielen und teilweise ziemlich witzigen Randzeichnungen und Kommentare wird die Geschichte etwas aufgelockert (sie zieht sich leider im Mittelteil etwas). Nachdem ich das Buch bekommen habe, war ich den restlichen Tag nicht mehr ansprechbar, habe nur noch gelesen, so spannend ist es. Ich werde es auch bald meinem Vater zu lesen geben, vielleicht gefällt’s ihm ja. Und ich kann wirklich jedem empfehlen, sich das Buch zu kaufen, denn es lohnt sich wirklich!
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