(Hanser-Verlag 2009, 220 Seiten)
Sverre Henmo, der Autor von „Großer Bruder, kleiner Bruder“, ist Norweger und hauptberuflich Lehrer an einer Gesamtschule. Der Hanser-Verlag umwirbt das Buch für die Altersgruppe ab 12 Jahren – doch da die Hauptperson Student ist und es in dem Buch u. a. um Familien- und Beziehungsthemen und -probleme geht, halte ich das für etwas sehr gewagt. Das schon mal vorab … Dass Sverre Henmos Buch darüber hinaus das Thema Behinderung auf ungewöhnliche und unverkrampfte Weise aufgreift, sei auch noch verraten.
Inhalt:
Adrian studiert Geschichte, ist jedoch eher ziellos in seinem Leben. Zu seinem jüngeren Bruder Tobias, der das Down-Syndrom hat, hat er eine recht intensive Beziehung – wenn möglich verbringt er viel Zeit mit ihm.
Mit seinen Eltern dagegen hat Adrian eher Schwierigkeiten – sie können nur begrenzt etwas miteinander anfangen und haben keinen intensiven Kontakt zueinander. Adrian ist dementsprechend froh, dass er nicht mehr zu Hause, sondern mit seinem Freund Otto, einem Soziologie-Studenten, in einer WG wohnt. Nach Hause kommt Adrian eigentlich nur, um mit Tobias abzuholen und etwas mit ihm zu unternehmen.
Adrians Freund Otto ist ein schräger Vogel, der vor allem eines will: nicht angepasst sein. So provoziert er ständig andere. Das ändert sich erst ein wenig, als er mit Marthe eine Beziehung beginnt.
Auf einer Party lernt Adrian auch ein Mädchen kennen gelernt, in das er sich verliebt: Vilde. Doch nach einer gemeinsamen Nacht will diese zunächst einmal nichts mehr von ihm wissen. Sie blockt Adrians Kontaktaufnahmen ab – doch er lässt nicht locker und hat schließlich Erfolg. So ganz einfach ist ihre Beziehung jedoch nicht, zumal Vilde lange nichts von Tobias weiß.
Bewertung:
Es ist nicht so ganz leicht, Sverre Henmos Buch zusammenzufassen, denn unterm Strich passiert auf der äußeren Ebene in dem Buch gar nicht so viel. „Großer Bruder, kleiner Bruder“ (Übersetzung: Gabriele Haefs) handelt eher von dem Seelenzustand Adrians und davon, wie sich dieser im Laufe des Romans verändert.
Zu Beginn habe ich mich eher schwer mit dem Buch getan, denn Adrian ist auf den ersten Seiten keine allzu sympathische Figur. Wie er z. B. auf einer Party Vilde mit markigen Sprüchen anmacht, empfand ich eher als Zumutung. Erst so langsam erschließt sich dem Leser, dass Adrians Verhalten eine Art Schutzmechanismus ist. Auch wenn eigentlich nie genau gesagt wird, was in Adrians Familie genau vorgefallen ist: Man merkt erst nach und nach, dass es Adrian mit seinen Eltern als Kind und Jugendlicher nicht unbedingt leicht gehabt haben muss. Es liegt nahe, dass das auch etwas mit der Behinderung seines Bruders, um den Adrians Eltern sich aufopfernd kümmern, zu tun hat.
Doch diese anfänglichen Schwierigkeiten, die ich mit dem Buch hatte, haben sich nach knapp 50 Seiten verflüchtigt. Sverre Henmos Buch entpuppte sich dann doch als interessante Beschreibung eines Jungen, der sich seiner Gefühle nicht richtig bewusst ist und dadurch im Leben schwimmt. Der anfangs nicht gerade sympathisch erscheinende Adrian wird zunehmend zu einer interessanten Figur.
Mit Otto ist ihm zudem eine weitere Person an die Seite gestellt, die den Leser immer wieder zum Schmunzeln bringt. Wie Adrians Freund immer darauf bedacht ist, anzuecken, die Gesellschaft und ihre Spießigkeit zu dekonstruieren, hat durchaus komische Momente.
All das hilft dem Leser, der über die ersten Seiten hinweggekommen ist, dann auch, doch noch so etwas wie Sympathie und Verständnis Adrian gegenüber aufzubringen – nicht zuletzt deswegen, weil er sich immer wieder rührend um Tobias kümmert.
Fazit:
5 von 5 Punkten. „Großer Bruder, kleiner Bruder“ ist kein Buch, das einem auf Anhieb gefällt, sondern ein Buch, das sich einem erst nach einer gewissen Zeit erschließt – aber dann findet man es umso besser. Für das Buch eingenommen hat mich letztendlich, dass es keine rührselige Geschichte über einen behinderten Jungen erzählt, sondern eben aufzeigt, welche Schwierigkeiten ein behindertes Kind in eine Familie bringt. Mir hat dieser „aufgeklärte“ Umgang mit dem Thema Behinderung jedenfalls gefallen. Und so war ich am Ende des Buches doch recht begeistert von Sverre Henmos Jugendroman.
Ja, so kann es manchmal gehen: Es rentiert sich, bei einem Buch nicht zu schnell aufzugeben … „Großer Bruder, kleiner Bruder“ kann man Jugendlichen ab 14 Jahren durchaus empfehlen – Jungen wie Mädchen.
(Ulf Cronenberg, 07.09.2009)
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