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Buchbesprechung: Mischa-Sarim Vérollet “Das Leben ist keine Waldorfschule”

Cover VérolletLesealter 16+(Carlsen-Verlag 2009, 155 Seiten)

Wisst ihr, was ein Poetry Slam ist? Ein Dichter-Wettkampf auf einer Bühne, bei dem mehrere Autoren gegeneinander antreten und versuchen, selbst geschriebene kurze Texte möglichst witzig und ausdrucksvoll vorzulesen. Das Publikum dient dabei als Jury, und das Ganze folgt festen Regeln. (Mehr über Poetry Slams erfahrt ihr in diesem Wikipedia-Artikel.)

Warum ich das frage? Weil Mischa-Sarim Vérollet Poetry Slam-Dichter ist und jetzt eine Auswahl seiner besten Texte in einem Buch bei Carlsen veröffentlicht hat. Kein ganz typisches Jugendbuch ist das, aber eines, das Jugendliche lesen können.

„Das Leben ist keine Waldorfschule“ ist kein durchgehender Roman, sondern enthält viele kürzere Geschichten – von daher greift die übliche Form der Buchbesprechung mit einer Zusammenfassung des Inhalts nicht. Und um was geht es in den Geschichten von Vérollet? Es sind alles maximal zehn Seite lange Erzählschnipsel, die wohl einen kleinen autobiografischen Anteil haben dürften, in denen ansonsten aber alles ziemlich auf die Spitze getrieben wird.

Da wird vom traumatischen Erlebnis Mischas, als er als Kind wegen einer Vorhautverengung operiert wird und seine Vorhaut verliert, berichtet (ob das autobiografisch ist???); wann anders schreibt der Ich-Erzähler darüber, wie er auf einem Festival die esoterisch-beseelte Galaktika kennen lernt und schließlich mit ihr schläft, um am nächsten Morgen von ihrem gar nicht feindseeligen nackten Ehemann geweckt zu werden; oder man erfährt, wie Mischas Karriere als Straßenfußballer erst ihren Höhepunkt erreicht, um dann jedoch abrupt wieder beendet zu werden.

Wortreich und witzig, immer ironisch und trotzdem liebevoll werden die Geschichten erzählt – die vielen Vergleiche, maßlosen Übertreibungen und Metaphern erschlagen den Leser dabei fast. Eine Kostprobe aus der Vorhautverengungsgeschichte gefällig? „Es war die gefühlte schiefgegangene Geschlechtsumwandlung, Beethovens Neunte in Schmerzform, genau so mussten sich Elefanten nach dem Entfernen ihrer Stoßzähne fühlen, ich war mir sicher, meine Vorhaut zierte genau in diesem Augenblick das Büro des Arztes und hing als Trophäe direkt neben dem Hirschgeweih.“ Mischa-Sarim Vérollet lotet dabei bis aufs Äußerste die Grenze der Geschmacklosigkeit aus: „Mit Tränen in den Augen begutachtete ich das befreite Bagdad …“ – es geht dabei nicht um irgendwelche Kriegsschauplätze, sondern um seinen Penis nach der Operation. Angesichts solcher Metaphern wird mancher die Nase rümpfen …

Ja, man muss sich erst ein bisschen an diesen provozierenden wortreichen Stil gewöhnen – aber hat man damit seinen Frieden gefunden, kann man nicht umhin, immer wieder herzhaft loszulachen, z. B. wenn Mischa sich sein Leben auf einer Südseeinsel unter Eingeborenen vorstellt, bei dem er sehnsüchtig u. a. an die IC-Strecke mit der Rheinschleife zurückdenkt: „Manchmal […] reihen wir hinterher zum Zeitvertreib die Schädel am Strand auf, setzen uns mittenrein und spielen ‘Überfülltes Abteil im IC 2112 zwischen Mainz und Koblenz‘.“ Vorausgegangen war die Jagd in einem benachbarten Dorf.

Die kurzen Geschichten dürften nicht jedem gefallen – dazu sind sie zu „abgefahren“. Aber wer mal etwas anderes lesen will, der sollte sich „Das Leben ist keine Waldorfschule“ anschauen. Mir hat das Bändchen alles in allem Freude gemacht und ich hatte eine „heitere Zeit“ beim Lesen der Geschichten. Zu erwähnen sind noch die Schwarzweiß-Illustrationen von Flix, einem Zeichner, der die komischsten Szenen aus den Geschichten passend illustriert hat.

Fazit:

4-einhalb von 5 Punkten. Mischa-Sarim Vérollets Buch ist gewöhnungsbedürftig, aber wer solchen abstrusen Geschichten über Erlebnisse und Ereignisse aus dem Leben etwas abgewinnen kann, wer dem maßlos übertriebenen Sprachstil, der auf Lachen zum jeden Preis aus ist, nicht abgeneigt ist, der wird an den kurzen Geschichten Gefallen finden.

„Das Leben ist keine Waldorfschule“ ist kein Buch, das man von vorne bis hinten in einem Rutsch durchlesen sollte. Nach zwei oder drei Geschichtchen ist man erst mal gesättigt. Nein, man gönnt sich die Erzählungen am besten häppchenweise – denn in der Masse geht einem der Sprachstil dann doch schnell auf die Nerven. Aber wenn man dieses Buch Stück für Stück erliest, kann man wirklich seine Freude daran haben. Jungen ab 15 oder 16 Jahren eher als wahrscheinlich Mädchen.

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(Ulf Cronenberg, 19.03.2009)

Wenn ihr übrigens den Autor in Aktion bei einem Poetry Slam sehen wollt, so könnt ihr dessen Website aufrufen: http://www.verollet.com – dort findet ihr unter „Medien“ u. a. zwei You Tube-Videos mit Geschichten aus dem Buch.


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