(Carlsen-Verlag 2009, 286 Seiten)
Essstörungen kommen vor allem unter Mädchen, zunehmend aber auch unter Jungen, ziemlich häufig vor – doch so richtig gute Jugendbücher über das Thema sind nicht unbedingt leicht zu finden. Eigentlich hatte ich mir von Marnelle Tokios Jugendbuch, dem Werk einer kanadischen Autorin, auch nicht allzu viel erwartet – jedoch war ich dann (das schon vorab) positiv von dem Buch überrascht. Warum? Lest einfach weiter …
Inhalt:
Marty steht kurz vor dem Schulabschluss – doch in ihrem Leben läuft nichts so richtig gut. Die Freundschaft mit Zack ist abrupt beendet, als dieser erfährt, dass sie schon mit anderen Jungen geschlafen hat, ihr Vater hat, als sie noch ein kleines Kind war, die Familie verlassen und ist kaum noch für Marty da, und ihre Mutter ertränkt ihre Sorgen in Alkohol. Und so entwickelt Marty eine Essstörung, die immer schlimmer wird – bis sie schließlich in eine Klinik eingeliefert wird.
Die Zeit dort ist die Hölle für Marty, die sich nichts gefallen lässt und sich gegen alles mit ihrem scharfzüngigen Mundwerk wehrt. Die Patientinnen werden zum Essen gezwungen, wenn sie nicht von sich aus Nahrung zu sich nehmen, sie werden ständig überwacht, damit sie das Essen nicht wieder erbrechen, die Pfleger sind unnachgiebig und scheinen gnadenlos und herzlos zu sein. Auch die anderen Mädchen auf der Station machen es Marty nicht gerade leicht, sich dort wohl zu fühlen. Erst als die 8-jährige klapperdürre Lily wegen einer massiver Essprobleme eingeliefert wird, taut Marty ein wenig auf und schließt mit dem jungen Mädchen Freundschaft.
Doch ansonsten tut sich bei Marty trotz Behandlung in der Klinik nicht viel: Nur äußerst langsam nimmt das Mädchen zu – den Therapieversuchen entzieht Marty sich ebenso wie den kläglichen Versuchen ihrer Eltern, ihr zu helfen. Nach einer kleinen Besserung kommt dann ein neuer Schicksalsschlag auf Marty zu, und plötzlich ist alles noch schlimmer als zuvor …
Bewertung:
„Magersucht“ – so richtig angetan war ich erst mal nicht, als ich von dem Thema des Buches auf dem Buchrücken erfahren habe. Doch schon auf den ersten Seiten war zu merken, dass Marnelle Tokio gekonnt und wortreich zu erzählen weiß. Das war der erste Moment, an dem mich „Nichts leichter als das“ gepackt hat – und mit zunehmender Lesedauer hat mich auch die Geschichte, bei der man etwas Eingewöhnungszeit benötigt, immer mehr gefesselt. Ab Seite 150 wollte ich das Buch dann nicht mehr aus der Hand legen.
Marnelle Tokios Buch besticht vor allem durch den Ton, mit dem Marty in Tagebuchaufzeichnungen von ihren Erlebnissen in der Klinik berichtet. Das Mädchen ist zynisch, beobachtet genau seine Umwelt und kann sich bissige Kommentare den Pflegern, ihren Eltern oder den anderen Mädchen gegenüber nie verkneifen. Diese Schlagfertigkeit Martys ist es, die mich besonders fasziniert hat, wird durch sie doch ein sehr genaues Bild von einem Mädchen, das an seinem Leben verzweifelt und dies mit seiner Intelligenz zu verdrängen und nicht an sich heranzulassen versucht, entworfen. Eine sehr genaue Charakterstudie verbirgt sich hinter den Erlebnisberichten Martys – sie ist Marnelle Tokio wirklich gut gelungen.
Das Buch berichtet – so viel sei verraten – am Ende auch vom Heilungsprozess des Mädchens, und dass das nicht in einem wohlgefälligen Kitsch endet, ist ein großes Verdienst der kanadischen Autorin. Marty legt in dem Buch einen langen und schwierigen, aber nachvollziehbaren Weg zurück, der sie zurück ins Leben bringt.
Fazit:
5 von 5 Punkten. Ich habe einige Bücher über das Thema „Magersucht“ gelesen – aber Marnelle Tokios Buch ist wohl eines der besten. Der Autorin gelingt trotz des schwierigen Themas die richtige Mischung aus Unterhaltsamkeit und Ernst. Und zugutehalten muss man Marnelle Tokio außerdem, dass man hinter den Zeilen keine pädagogische Absicht spürt, die der Geschichte ihre Glaubwürdigkeit und Lebendigkeit nehmen würde. Es ist wohltuend, dass es in dem Buch keine brachiale Botschaft gibt.
Dass man beim genaueren Hinschauen auch die ein oder andere kleine Unstimmigkeit in dem Buch entdeckt – so taucht z. B. die in der Mitte des Buches eingeführte Person des einzigen magersüchtigen Jungen später nicht mehr auf –, vermag dem Reiz des Jugendromans nichts anzuhaben. Das sind Spitzfindigkeiten – denn ansonsten stimmt einfach alles in dem Buch. Es ist fulminant, einfühlsam und ehrlich geschrieben und weiß trotz des schwierigen Themas auch zu unterhalten.
(Ulf Cronenberg, 08.03.2009)
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Martys Geschichte hat mich sehr berührt. Vor allem, da man ja weiß, dass Marnelle Tokio ihre eigenen Erfahrungen in dem Buch verarbeitet hat. Ich habe auch schon sehr viele Bücher über Magersucht gelesen, und glaube, das von Tokio ist mit Abstand eines der besten. Man erfährt hautnah, wie es Menschen geht, wenn sie magersüchtig sind. In dem Buch sind ja sehr viele Gefühle ganz genau beschrieben, man fühlt richtig mit Marty mit.
Alles in allem ein sehr gutes Buch, wirklich empfehlenswert!
Ich fand Martys Geschichte auch sehr berührend und gleichzeitig toll geschrieben. Ich finde es mutig, seine eigene Geschichte in einem Buch zu verarbeiten. Tolles Buch.