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Kurzrezension: Wolfgang Böhmer “Hesmats Flucht”

Cover BöhmerLesealter 12+(cbt-Verlag 2008, 276 Seiten)

Schon seit längerer Zeit gibt es in Deutschland eine Diskussion darüber, ob die Bundeswehr weiterhin in Afghanistan bleiben und dort für Frieden sorgen soll oder ob die deutschen Truppen sich zurückziehen sollten. Keine einfache Frage … Wenn man ein bisschen etwas über das Land Afghanistan erfahren will, so ist Wolfgang Böhmers Buch „Hesmats Flucht“ genau das Richtige. Es sind keine direkten politischen Hintergrundinformationen, die man hier nachlesen kann, sondern in einer Erzählung, die auf wahren Begebenheiten beruht, bekommt man indirekt mit, wie schlimm die Zustände in dem Land waren und sind.

Wolfgang Böhmer ist österreichischer Journalist und wurde auf die Geschichte um Hesmat, der wirklich lebt, vor ein paar Jahren aufmerksam gemacht. In vielen Gesprächen mit dem inzwischen jungen Mann, der eine Lehre abgeschlossen hat, aber auch durch Informationen, die Wolfgang Böhmer auf seine Reisen als Journalist nach Afghanistan gewonnen hat, ist dieses Buch entstanden.

Hesmat, der 11 Jahre alt ist, hat seine beiden Eltern verloren: Die Mutter starb an wohl an Tuberkulose (so genau steht das nicht in dem Buch), während der Vater, der die russische Armee unterstützt hatte, nach der Machtergreifung durch die Taliban zunehmend unter Druck gesetzt und schließlich getötet wurde. Hesmat überlebte nur, weil sein Vater ihn einige Wochen vor seinem Tod in einem engen und dunklen Kellerloch versteckt gehalten hatte. Während Hesmats jüngerer Bruder bei seinem Großvater, der streng gläubig ist, untergebracht wurde, ist Hesmat auf sich allein gestellt und hat nur noch seinen Onkel Karim.

Hesmats Eltern haben ihm, sollten sie sterben, geraten, nach London zu fliehen – und genau das nimmt sich Hesmat mit Unterstützung von Karim vor. Karim gibt ihm 7000 Dollar, die er für das Haus von Hesmats Eltern bekommen hat, und dann macht sich der Junge auf den Weg – einen langen Weg, der am Ende mehr als ein Jahr dauert. Viele Rückschläge gilt es für Hesmat zu verkraften. Er bezahlt z. B. eine große Summe für die Zugfahrt nach Moskau, wofür er gefälschte Papiere bekommt und vom Schaffner im Zug versteckt werden soll. Doch die Polizisten an der Grenze zu Tadschikistan spüren den Jungen mit Hunden auf. Mehrmals kommt Hesmat auf seiner Flucht ins Gefängnis, nur durch Bestechungen erlangt er immer wieder die Freiheit und kann seine Flucht fortsetzen.

Mehrmals wird der Junge auf seiner Flucht von anderen betrogen. Sie nehmen sein Geld, halten sich aber nicht an die Vereinbarungen – doch ab und zu trifft Hesmat auch auf Menschen, die ihm ernsthaft helfen wollen … Erschreckend ist das alles für den Leser, der hier im Westen in seinem Sessel sitzt oder auf dem Bett liegt. Beim Lesen fragt man sich immer wieder, wie ein einfacher Junge aus Afghanistan mit seinen 11 Jahren eine solch beschwerliche Flucht überhaupt durchhalten kann. So oft wird Hesmat gefangen genommen, von Polizisten geschlagen, er stößt unterwegs auf Leichenberge, immer wieder halten die Schlepper, die angeblich Flüchtlinge über die Grenze bringen wollen, ihre Versprechen nicht … Das alles ist einfach schockierend zu lesen.

Man traut sich kaum, ein solches Buch, das die wahre und schlimme Geschichte eines Jungen erzählt, zu kritisieren. Aber ab und zu merkt man eben doch, dass dieses Buch ein Journalist und kein Schriftsteller geschrieben hat. Es fehlt „Hesmats Flucht“ ein wenig an literarischer Qualität, die das Buch so richtig lesenswert gemacht hätte. Das soll nicht heißen, dass das Buch nicht solide geschrieben ist – aber es ginge eben auch noch besser. Als ich vorgestern in einer 7. Klasse ca. zehn Seiten aus dem Buch vorgelesen habe, meinten die Schüler hinterher dementsprechend auch, dass das wohl ein Buch für Erwachsene sei. So richtig gepackt hat die 20 Jungen der Text, obwohl es um die Grenzkontrolle im Zug – eine ziemlich heftige Szene – ging, nicht.

Fazit:

4 von 5 Punkten. Das große Verdienst von Wolfgang Böhmer ist es, dass er mit diesem Buch auf die schlimmen Flüchtlingsschicksale von Kindern aufmerksam macht und somit auch um Verständnis wirbt. Wer „Hesmats Flucht“ gelesen hat, wird nicht mehr so leicht sagen können, dass man Flüchtlinge ohne Bedenken wieder in ihr Heimatland abschieben sollte. Es ist nahezu unglaublich, dass ein 11-Jähriger solche Dinge erlebt und überlebt hat – und dass er dann in Österreich ankommt und wieder abgeschoben werden soll.

Blickt man auf „Hesmats Flucht“ mit der literarischen Brille, so ist zu bemerken, dass hier durchaus mehr drin gewesen wäre. Aber vielleicht ist es auch besser, wenn die Geschichte von Hesmats Flucht eher sachlich erzählt wird – denn es handelt sich dabei ja um eine wahre Begebenheit. Dennoch: Es ging mir beim Lesen eben so, dass mich von sprachlicher Seite her das Buch deutlich weniger gefesselt hat als von Seiten der schockierenden Handlung. „Hesmats Flucht“ ist ein Buch für junge Leser, die sich für andere Kulturen interessieren, die es lieben, einen Einblick in fremde Lebenswelten zu bekommen (auch wenn dieser alles andere als leicht verdaulich ist), und die politisch interessiert sind.

Was dem Buch noch zugute gehalten werden muss: Im Anhang findet man einen Abriss der Geschichte Afghanistans der letzten 35 Jahren. Diese Erläuterungen sollte man allerdings vielleicht besser schon vor dem Lesen des Buches durchschauen (insbesondere, wenn man wenig Vorwissen über Afghanistan mitbringt) – denn dann versteht man manche Teile des Buches deutlich besser …

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(Ulf Cronenberg, 23.11.2008)

Kommentare (5)

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  2. Anonymus

    Leider gibt es in dem Buch viele Rechtschreibfehler. Zudem wurde auch „am öftesten“ statt „am meisten“ benutzt.

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    1. Ulf Cronenberg

      „Am öftesten“ ist eine im Rechtschreib-Duden durchaus erwähnte und erlaubte Variante … Hab ich gerade nachgeschlagen. Vielleicht nicht das beste Deutsch, aber durchaus statthaft.

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  4. Daniela

    Ich finde dieses Buch nicht angemessen für 12- bis 13-Jährige. Es enthält viele schockierende, plastisch geschilderte Grausamkeiten, die eher ab 16 Jahren zu empfehlen sind, und nicht früher.

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