(dtv, Reihe Hanser 2004, 237 Seiten)
Ein halbes Jahr ist es her, dass ich die kanadische Schriftstellerin Martha Brooks mit ihrem zweiten, ins Deutsche übersetzten Jugendbuch „Mistik Lake“ kennen gelernt habe. Und „Mistik Lake“ ist für mich bisher einer der Höhepunkte in diesem Lesejahr, weil die Autorin darin so eindrücklich Stimmungen und Personen beschrieben hat.
Schon damals habe ich mir gleich ihr erstes Buch „Wahre Geständnisse eines herzlosen Mädchens“ (Übersetzung: Birgitt Kollmann) zuschicken lassen, aber bisher keine Zeit gefunden, es zu lesen. Jetzt endlich habe ich mir das Buch doch vorgenommen – und war sehr gespannt …
Inhalt:
Lynda war früher Lehrerin (warum sie diesen Job aufgegeben hat, bleibt eines der vielen Geheimnisse in dem Buch) und wohnt mit ihrem Sohn Seth seit einiger Zeit in einem kleinen Kaff namens Pembina Lake. Dort betreibt sie ein Café, das sie von ihrem Stiefvater geerbt hat, das jedoch nicht allzu gut läuft, weil in dem Ort nur wenige Menschen leben und diese nicht gerade reich sind.
Eines Tages taucht völlig unvermittelt Noreen in dem Café auf. Das Mädchen sieht ziemlich abgebrannt und fertig aus. Und obwohl Lynda sich eigentlich sagt, dass sie genug am Hals hat, nimmt sie Noreen auf und bietet ihr an, dass sie bei ihr übernachten kann. Doch schon kurz darauf beginnt der Ärger mit dem Mädchen, das immer wieder seltsame und unverständliche Dinge macht, vor allem aber auch in ziemlich rüdem Ton mit anderen Menschen spricht und sich unausstehlich gibt.
Lyndas Freundin Dolores, eine alte Frau, die Lynda manchmal im Café, aber auch sonst unter die Arme greift, spricht schließlich mit Noreen. Dolores versteht es, dass Menschen sich ihr anvertrauen, und so öffnet sich schließlich auch Noreen ihr gegenüber. Dolores erfährt, dass Noreen ziemlich in Ärger steckt. Das Mädchen ist schwanger, hat kurz bevor sie in Pembina Lake gelandet ist, das Auto ihres Freundes Wesley sowie 800 Dollar aus seiner Spardose gestohlen, um abzuhauen. So richtig nachvollziehbar ist nicht, warum sie das getan hat, denn Wesley scheint Noreen wirklich geliebt zu haben. Das Mädchen umgibt anscheinend eine Aura, die nur darauf aus ist, andere zu verletzen und Ärger zu machen …
Bewertung:
Auch „Wahre Geständnisse eines herzlosen Mädchens“ ist – wie „Mistik Lake“ – ein faszinierendes und außergewöhnliches Buch. Noreen ist ein unausstehliches Mädchen, das es sich mit allen verscherzt, und trotzdem wird sie so beschrieben, dass man hinter der vordergründigen extremen Ruppigkeit des Mädchens schlimme Erlebnisse in der Vergangenheit vermutet, die jedoch nur angedeutet werden. Doch warum sich Noreeen so herzlos benimmt, erfährt man nicht im Detail.
Das Besondere an Martha Brooks erstem, ins Deutsche übersetzten Buch ist, welche Figuren sie für dieses Buch geschaffen hat und wie sie diese beschreibt. Alle Hauptpersonen – neben Lynda, Noreen und Dolores sind dies vor allem Dolores‘ Freundin Mary sowie der etwa 50-jährige Del, dessen Bruder vor Jahren im See ertrunken ist – haben ihre Schatten auf sich lasten und knabbern an Schicksalsschlägen. Doch genau das macht diese Figuren so menschlich und deswegen kümmern sie sich auch um Noreen: weil sie wissen, dass sie früher Fehler begangen, andere im Stich gelassen haben, selbst in schwierigen Momenten im Stich gelassen wurden – und das soll Noreen nicht auch passieren.
Die einzige unbekümmerte Figur in dem Buch ist eigentlich Seth, Lyndas Sohn. Den Jungen im Kindergartenalter scheinen wegen seiner Art, auch wenn er etwas verwöhnt scheint, eigentlich alle außer Noreen, die meist eher genervt von ihm ist, zu mögen. Seth ist als einzige Figur noch nicht vom Leben gebeutelt – doch die anderen Figuren zeigen, dass Schicksalsschläge dazu führen können, dass man mitmenschlich wird. Für Noreen ist das ein Segen, denn das Mädchen taucht dadurch auf, dass die anderen sich um sie kümmern, und beginnt ihr Leben in die Hand zu nehmen.
Fazit:
5 von 5 Punkten. „Wahre Geständnisse eines herzlosen Mädchens“ hat bereits die gleichen Stärken, die „Mistik Lake“ auszeichnen: Martha Brooks ist eine Meisterin, wenn es darum geht, Personen zu beschreiben. Ihre Bücher zeigen die Tragik des Lebens auf und bieten trotzdem so etwas wie Hoffnung, weil in ihnen gezeigt wird, wie man mit Schicksalsschlägen umgehen und daraus lernen kann. Die Figuren in Martha Brooks Roman sind somit so etwas wie leise und stille Vorbilder.
Im Vergleich zu „Mistik Lake“ erscheint „Wahre Geständnisse eines herzlosen Mädchens“ ein klein wenig ruppiger. Das Buch hat kleinere Ecken und Kanten in der Erzählweise, die etwas sprunghaft ist. Doch mich haben diese kleinen Ungereimtheiten nicht gestört. Martha Brooks‘ Erstlingswerk ist ein beeindruckendes Buch, das einen zum Nachdenken anregt, das philosophische Fragen aufwirft, indem es vieles nur andeutet, was der Leser selbst ausfüllen darf. Ein Buch, das reife Leser voraussetzt, diese aber auch belohnt!
(Ulf Cronenberg, 20.11.2008)
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