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Buchbesprechung: Peter van Gestel “Wintereis”

Cover van GestelLesealter 14+(Beltz & Gelberg-Verlag 2008, 327 Seiten)

Der zweite Weltkrieg und die Nachkriegsjahre sind noch immer häufig Thema in Jugendbüchern. Der Holländer Peter van Gestel – 1937 geboren – hat sich auf eine stille und leise Art dem Thema genähert, und zwar – wie die Übersetzerin Mirjam Pressler in ihrem Nachwort anmerkt – mit einer erfundenen Geschichte, die jedoch von den Erinnerungen Peter van Gestels aus dieser Zeit angeregt wurde. „Wintereis“ hat jedenfalls schon einige Preise in Holland eingeheimst und ist nun bei Beltz & Gelberg auch auf Deutsch erschienen.

Inhalt:

Amsterdam im Februar 1947 – eine große Kältewelle mit Schnee und Eis liegt über der Stadt. Thomas‘ Mutter ist kurz nach dem Zweiten Weltkrieg an Typhus gestorben, und so lebt der Junge allein mit seinem Vater in der holländischen Stadt. Doch sein Vater ist ein etwas seltsamer Kauz. Er schreibt ständig irgendwelche Hefte voll und raucht dabei eine Zigarette nach der anderen, während er sich kaum um die Erziehung seines Sohnes kümmert.

Als sein Vater nach längerer Suche eine Stelle bei der britischen Armee in Deutschland findet, muss Thomas bei seiner Tante Fie und ihrem Mann bleiben – denn mit nach Deutschland kann er nicht. Doch schon bald zieht Thomas erneut um. Er hat sich einige Zeit vorher mit einem Jungen namens Piet Zwaan angefreundet, der neu in seine Klasse gekommen ist. Und als er in dessen Haus kommt, bietet ihm Piets Tante Jos an, doch bei ihnen zu wohnen. Piets Tante überzeugt schließlich auch Thomas‘ Tante Fie, dass Thomas bei ihnen unterkommen kann. Thomas‘ Tante ist das recht, hat sie sich kurz vorher doch den Fuß verstaucht und kann sich nicht so richtig um ihren Neffen kümmern.

Für Thomas ist das Leben in dem schönen großen Haus, in dem Piet lebt, etwas ganz Besonderes. Nicht nur mit Piet, sondern auch mit dessen Cousine Bet versteht er sich sehr gut. Erst nach und nach bekommt Thomas allerdings mit, warum Piet bei seiner Tante wohnt: Piets Eltern leben nicht mehr, und auch Bets Vater ist tot. Die Familie redet über diese Dinge jedoch nicht gerne …

Bewertung:

Ein ganz stilles Buch ist „Wintereis“, denn eigentlich passiert nicht allzu viel in dem Jugendroman. Und so ganz einfach fand ich den Einstieg in Peter van Gestels Buch auch nicht. Es hat eine Weile gedauert, bis ich so richtig darin angekommen war, mich in der Geschichte eingelebt hatte. Doch dann hatte „Wintereis“ auf einmal einen ganz besonderen Reiz.

Peter van Gestel versteht es meisterhaft die Stimmung der damaligen Nachkriegszeit in Holland einzufangen – eine Zeit, in der wohl alle Menschen in einer Art Schwebezustand lebten: Erwachsene, aber auch Kinder und Jugendliche wie Thomas, Bet und Piet. Sie alle versuchen, die schlimmen vergangenen Kriegsjahre nicht übermächtig werden zu lassen, aber dennoch begegnet man den Auswirkungen davon an jeder Ecke. In den Häusern leben nicht mehr die Juden von früher, Kinder wachsen ohne Eltern auf und noch immer ist die Not groß.

Über Peter van Gestels Buch schwebt ein wehmütiger, fast sehnsüchtiger Grundton. „Es war nur schon vorbei, bevor es vorbei war. Und ich konnte nichts darüber sagen, keiner der beiden [Piet und Bet] würde begreifen, dass ich Heimweh nach etwas hatte, das noch da war […]“ – so drückt es Thomas auf Seite 257 aus. Besser kann man die Grundstimmung in Peter van Gestels feinsinnigem Buch nicht beschreiben.

Diese Stimmung wird dabei auf eine ganz geschickte Art und Weise erzeugt: Es sind vor allem die Dialoge, die sie auf den Leser übertragen – Dialoge, bei denen die Personen immer wieder aneinander vorbeireden, wo so vieles ungesagt bleibt, zwischen den Zeilen jedoch noch etwas anderes mitschwingt, was die Gesprächspartner durchaus wissen und der Leser ebenfalls mitbekommt. Selten hat man so meisterhaft geschriebene Dialoge in einem Buch gefunden, die mehr sagen als darin gesprochen wird. Das ist hohe Kunst.

Fazit:

5 von 5 Punkten. Seine größte Stärke entfaltet „Wintereis“ in der Mitte des Buches, als Thomas, Piet und Bet unter einem Dach wohnen. Diese 150 Seiten sind sehr intensiv – am Anfang und am Ende des Buches ist davon leider ein klein bisschen weniger zu spüren. Doch die Mitte des Buches allein hat es in sich.

Ich habe mich lange gefragt, wem man dieses Buch eigentlich empfehlen kann. Ist das wirklich, wie der Beltz & Gelberg-Verlag schreibt, ein Buch für Jugendliche ab 12 Jahren? Ich bin mir nicht sicher. Am ehesten würde ich „Wintereis“ als ein Kinderbuch für Erwachsene ansehen. Denn die melancholische Grundstimmung in dem Buch werden nur wenige 12-Jährige wirklich nachvollziehen können (deswegen habe ich die Alterempfehlung auch ein wenig heraufgesetzt). Dazu braucht man Anknüpfungspunkte aus dem eigenen Leben …

Ein typisches Jugendbuch ist „Wintereis“ nicht. Nein, und das Buch fällt damit auch aus dem Rahmen der sonstigen Neuerscheinungen im Jahr 2008. Es ist ein ent-rücktes Buch, ein Buch, das nicht so ganz in die heutige Zeit passt. Durch Peter van Gestels Roman wird einem jedoch einmal mehr deutlich, wie weit der Bogen der Jugendbücher gespannt ist (z. B. im Vergleich zu dem letzten von mir gelesenen Buch: Blake Nelsons „Paranoid Park„). Und allein dafür darf man dem Autor (und der einfühlsamen Übersetzerin Mirjam Pressler) dankbar sein.

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(Ulf Cronenberg, 19.08.2008)


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