(Carlsen-Verlag 2008, 96 Seiten)
„Komisch, dass man jetzt, wo jeder Haushalt seine eigene Interkontinentalrakete hat, kaum noch darüber nachdenkt. Anfangs wurden sie noch wahllos ausgegeben. Da war es noch aufregend. Ein Bekannter bekam ein Schreiben von der Regierung, und eine Woche später lud ein Laster die Rakete ab. Dann musste jedes Eckhaus eine haben, dann jedes zweite Haus, und jetzt würde es merkwürdig aussehen, wenn man beim Geräteschuppen oder der Wäscheleine keine Rakete stehen hätte.“
Mit solchen bizarren Anfängen von Geschichten wird man konfrontiert, wenn man Shaun Tans Buch „Geschichten aus der Vorstadt des Universums“ liest.
Eine normale Buchbesprechung im üblichen Jugendbuchtipps.de-Schema ist da gar nicht zu schreiben – den Inhalt dieser Geschichten kann man nicht einfach so zusammenfassen. Und von daher verzichte ich auch auf die Trennung von Inhalt und Bewertung, sondern gehe auf alles in einem ein.
Ja, was ist das eigentlich für ein Buch? Der Carlsen-Verlag meint, es wäre für Kinder ab 10 Jahren geeignet. Wenn man es das erste Mal durchblättert, hat man eher das Gefühl, ein Vorlesebuch für jüngere Kinder in den Händen zu halten. Hat man jedoch mehrere Geschichten gelesen, so ist klar, dass dieses Buch so einiges enthält, was jüngere Kinder nicht verstehen dürften. Ob ein 10-jähriges Kind zum Beispiel den oben zitierten Anfang der Geschichte über die Interkontinentalraketen versteht?
Was der Australier Shaun Tan in diesem Buch gemacht hat, ist jedenfalls etwas Einmaliges. Skurrile Geschichte, die äußerst kunstvoll bebildert sind. Bei der bereits zitierten Geschichte z.B. sieht die Illustration wie im Bild rechts aus. Raketen, in denen sich Vögel eingenistet haben, sind da unter anderem zu erkennen. Oder Raketen, die von den Besitzern bunt verziert wurden. Und natürlich wird am Ende der Geschichte die Frage gestellt, ob diese Raketen überhaupt noch funktionieren. Und was meint der Erzähler dazu? Er hofft darauf, dass die Bewohner anderer Länder ebenso mit ihren Raketen verfahren sind – und dann wäre es ja nicht schlimm, wenn auch die Raketen der Gegenseite nicht mehr funktionieren würden…
Aber noch ganz anderes findet man in dem Buch. Eine Doppelseite ist wie ein Ausschnitt aus einer Zeitung gestaltet, und der Artikel in der Mitte enthält eine weitere Geschichte – nämlich die Erzählung über eine Amnesie-Maschine (da ist wieder die Frage: Weiß ein 10-jähriges Kind, was eine Amnesie ist?).
An anderer Stelle wird ähnlich wie in einem Comic erzählt – mit beschrifteten Bildern. Die Geschichte handelt von den zerrissenen Papierfetzen eines Gedichtschreibers, die zusammenfinden und eine immer größere Papierkugel bilden, die schließlich über einer Stadt schwebt und dann durch einen Windstoß und einen Regenguss auseinander fällt. Und so regnet es in der Stadt eines Morgens Papierfetzen mit komischen, unverständlichen und freudigen Textschnipseln.
Ja, lauter solche ungewöhnlichen Ideen sind in den Geschichten Shaun Tans zusammengetragen. Geschichten, bei denen man immer wieder schmunzeln, manchmal sogar lachen muss, andere, bei denen man ins Nachdenken kommt oder die den Leser einen ganz anderen Blick auf alltägliche Dinge werfen lassen. Als ein kreatives und anregendes Verwirrspiel könnte man dieses Buch bezeichnen.
Fazit:
5 von 5 Punkten. Man bemerkt nicht gleich, welches Kleinod man mit „Geschichten aus der Vorstadt des Universums“ in der Hand hält. Der erste Blick auf das Buch mag einem den Eindruck vermitteln, dass das ein Bilderbuch sei. Doch eigentlich ist Shaun Tans Buch meiner Meinung nach ein hübsch gestaltetes Buch für Jungendliche ab frühestens 12 Jahren – und für Erwachsene, die anregende Kurzgeschichten mögen.
Ich habe mich – ehrlich gesagt – in dieses Buch recht schnell verliebt. „Geschichten aus der Vorstadt des Universums“ sticht jedenfalls aus den sonstigen Büchern für Kinder und Jugendliche heraus. Es ist sehr schön illustriert – von den Bildern kann man nur schwärmen -, und enthält äußerst ungewöhnliche Geschichten, die Geheimnisvolles beschreiben und behandeln, außerdem Fragen zum Nachdenken aufwerfen. Ein tolles Buch!
(Ulf Cronenberg, 06.08.2008)
(Die Abbildungen aus dem Buch wurden mit Genehmigung des Carlsen-Verlages in diese Buchbesprechung übernommen – danke!)
Entdecke mehr von Jugendbuchtipps.de
Subscribe to get the latest posts sent to your email.
Pingback: Jugendbuchtipps.de» Blogarchiv » Buchbesprechung: Shaun Tan “Ein neues Land”
Pingback: Jugendbuchtipps.de» Blogarchiv » Nominierungen für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2009
Pingback: Jugendbuchtipps.de» Blogarchiv » Die Preisträger des Deutschen Jugendliteraturpreises 2009
Ich weiß nicht, wer diesen Artikel geschrieben hat, aber derjenige muss Kinder ja für ganz schön dumm und zurückgeblieben halten, wenn er denkt, dass wir nicht wissen, was beispielsweise Amnesie bedeutet. Es mag vermutlich schon welche geben, die davon keine Ahnung haben, aber die sind meiner Meinung nach wirklich sehr selten. Nichtsdestotrotz schätzte ich es sehr, dass sich ein Erwachsener die Mühe macht, so einen Artikel zu verfassen. Vielen Dank!
Tabea, 11 Jahre
Tabea, ich gehe trotzdem mal eher davon aus, dass die meisten Kinder und Jugendlichen unter 11 Jahren eher nicht wissen, was eine Amnesie ist. Aber das heißt nun wirklich nicht, dass ich Kinder dieses Alters für dumm halten würde. Vielleicht hast natürlich auch du recht … 🙂
Besonders hervorheben möchte ich die supergute Übersetzung. Das war sicher ganz schwierig. Und sie ist wunderbar gelungen. Dann ist noch wichtig, dass es eine fast unglaubliche Menge an unterschiedlichen Gestaltungsarten gibt. Herr Tan scheint sich mit allen Materialien auszukennen: Collage, Holzschnitt, Bleistift, Wasserfarben, Gouache, Acryl, Gesso, Tinte, Fineliner, digitaler Nachbearbeitung … Ein ganz beeindruckendes Buch für mehrere Sinne.
Pingback: Jugendbuchtipps.de» Blogarchiv » Buchbesprechung: Shaun Tan „Der Vogelkönig und andere Skizzen“