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Buchbesprechung: Frank M. Reifenberg “Landeplatz der Engel”

Cover ReifenbergLesealter 15+(Thienemann-Verlag 2008, 252 Seiten)

Ein interessanter Buchtitel ist das: „Landeplatz der Engel“. Und dann noch ein hübscher Buchumschlag dazu… So ein Buch nimmt man gerne in die Hand. Der Titel verrät noch nicht allzu viel darüber, worum es in dem Buch geht – und auch der Klappentext hilft einem nur bedingt weiter: dass es um zwei Jugendliche geht, die sich gemeinsam auf und davon machen. Dass das so genannte Tourette-Syndrom dabei eine wichtige Rolle spielt, wird nicht erwähnt, ist für das Buch aber wichtig…

Tourette-Syndrom? Nie gehört? Nun, das ist eine Krankheit, bei der Betroffene Tics haben – motorischer wie lautlicher Art: z.B. unwillkürliches Kopfschütteln oder das Nachahmen und ständige Wiederholen von Lauten. Aber jetzt doch zu dem Buch…

Inhalt:

Fabian hat seit dem achten Lebensjahr das Tourette-Syndrom und eckt damit immer wieder bei anderen an, weil er mit seinen Tics auffällt. Am liebsten geht er in eine Disco namens „Depot“ und tanzt dort stundenlang zu den lauten Beats der Musik. Sein Vater ist Politiker, einer von den Hardlinern, die die Zero-Tolerance-Politik für die Polizei fordern, und nach der bevorstehenden Wahl hat er gute Chancen, Innenminister zu werden. Mit seinem Sohn kommt er jedoch gar nicht zurecht und schikaniert ihn genauso wie seine Frau.

Als Fabian eines Abends aus dem „Depot“ nach Hause geht und an der Bushaltestelle einen Tic-Anfall bekommt, wird er von einem Jungen namens Mirco zusammengeschlagen, weil dieser denkt, Fabian wolle mit den Zungenbewegungen seine Freundin anmachen. Unter seltsamen Umständen begegnen sich die beiden jedoch wieder – und das Seltsame passiert: Gemeinsam hauen sie ab, und das, obwohl sie sich anfangs ständig nur mit ihrer total unterschiedlichen Art gegenseitig anschnauzen.

Mirco hat ein bewegtes Leben hinter sich – mit Drogen und immer wieder kriminellen Machenschaften. Und so ist es auch kein Wunder, dass die beiden mit einem geklauten Auto erst in das Häuschen einer Gartenkolonie flüchten. So langsam lernen sie sich auf Umwegen besser kennen – und Mirco, der Fabian zunächst immer als Spasti beschimpft, lernt die Gegenwart Fabians zunehmend zu schätzen. Doch auch Fabian erfährt so einiges über das abgedrehte und schwierige Leben seines neuen Freundes. Und bald geht die Reise weiter…

Bewertung:

„Landeplatz der Engel“ beginnt etwas seltsam. Auf zwei Seiten sinniert Fabian über einen kurzen Satz, den er kurz vorher von Micro vor dem „Depot“ aufgeschnappt hat: „Scheiß was drauf“. Was in Fabians Kopf da vorgeht, ist etwas komisch – und es dauert etwas, bis man als Leser kapiert, worum es hier geht: um die Darstellung der zwanghaften Gedanken eines Jungen, der am Tourette-Syndrom leidet. Immer wieder wird man in dem Buch mit den Gedankenketten Fabians konfrontiert. Wie Frank M. Reifenberg solche Zwangsgedanken sprachlich zu fassen bekommt, hat mir gut gefallen, weil es einem das Denken und Empfinden eines vom Tourette-Syndrom Betroffenen näher zu bringen versucht.

Doch je weiter man in dem Buch liest, umso deutlicher wird, dass es in dem Buch eben nicht nur um das Tourette-Syndrom geht, sondern dass die Freundschaft zweier extrem unterschiedlicher Jungendlichen im Zentrum des Buches steht: wie sie sich trotz ihrer Unterschiedlichkeit annähern; wie der vom Leben gestählte Micro, der sich anfangs über Fabian nur lustig macht, langsam seine Scheuklappen ablegt und sich auf Fabian einlässt.

Auch bei Mirco ist ja so einiges im Argen: Er, der immer nur cool sein will, der seine Mutter nicht kennt, der immer nur mit den verrücktesten Dingen angibt, sich nichts gefallen lässt und sich mit Drogen und dem Zwang, ständig Neues zu erleben, ins Leben stürzt. Und so langsam bekommt man als Leser vermittelt, dass auch hinter Mirco durchaus ein weicherer Kern steckt, den er allerdings sorgsam zu verstecken versucht.

„Landeplatz der Engel“ ist ein Buch, das mir – vor allem, als die beiden abhauen und unterwegs sind – immer besser gefallen hat. Ich wollte mit dem Lesen irgendwann gar nicht mehr aufhören. Das am Anfang etwas anstrengend zu lesende Gedankenwirrwarr von Fabian gehörte irgendwann einfach dazu – und letztendlich macht genau dieser Versuch, die Denkweise eines von Tourette-Syndrom Betroffenen darzustellen, auch das Besondere dieses Buch aus.

Fazit:

5 von 5 Punkten. Dass Frank M. Reifenberg die Geschichte von „Landeplatz“ für Engel“ zunächst als Filmdrehbuch geplant hat, ist dem Buch noch immer anzumerken. Denn am treffendsten kann dieses Buch charakterisiert werden, wenn man es als Roadmovie in Buchform über zwei sehr unterschiedliche Jugendliche bezeichnet. Weder als Film noch als Buch ist diese Art von Erzählung neu – mich hat sie u.a. an „Knockin‘ on Heaven’s Door“ (einen Film mit Til Schweiger) oder an Zoran Drvenkars „Touch the flame“ erinnert. Das Neue an der Geschichte ist jedoch, dass darin ein Behinderter eine Hauptrolle spielt – und zwar eine sympathische.

„Landeplatz der Engel“ ist nicht immer ein ganz einfach zu lesendes, aber ein tolles Buch – das kann ich abschließend nur sagen. Frank M. Reifenberg hat eine Geschichte mit der richtigen Mischung aus Tempo, Spannung und Einfühlsamkeit geschrieben. Und besonders zugute zu halten ist dem Autor, dass das Thema Tourette-Syndrom (das war vorab ein wenig meine Befürchtung) nie auch nur einen Moment gefühlsduselig behandelt wird. Im Gegenteil: Am Ende fragt man sich ein wenig wie Mirco, ob wir nicht alle ein wenig so verrückt sind wie Fabian, bloß dass es dafür keinen Namen gibt.

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(Ulf Cronenberg, 05.08.2008)

Zu „Landeplatz der Engel“ gibt es übrigens ein Blog mit Hintergrundinformationen zum Autor und zum Buch, das ihr hier aufrufen könnt: http://www.landeplatzderengel.de/.

Und wer mehr über das Tourette-Syndrom erfahren will, kann dies entweder in der Wikipedia oder auf der deutschen Homepage zum Tourette-Syndrom tun.

Kommentare (0)

  1. Martina

    Wow … das nenn ich mal eine tolle Kritik … Diese Buch werde ich auf jeden Fall lesen … 🙂
    Überhaupt ist dieser Blog einfach toll …. freu mich auf mehr und ich komme wieder!

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  2. Anja

    Yep! Da bin ich (fast) ganz der Meinung des Rezensenten! Dieses Buch ist für mich DAS Jugenbuch-Highlight diesen Jahres !!!!!
    Mich hat es allerdings von Anfang an gepackt, und ich habe keine Schwierigkeiten gehabt ‚reinzukommen‘ – und ganz besonders das Sinnieren am Anfang über Sätze wie ‚Scheiß was drauf‘ hat mich echt angemacht. Der Begriff der „Von-Oben-Nach-Unten-Sätze“ und „Fischstäbchensätze“.
    Diese Beschreibungen waren für mich wirlich der Hammer, ich hatte diesen Auszug vorher auf der Website http://www.landeplatzderengel.de gelesen und mir deshalb das Buch gekauft.
    Die Beschreibung von Fabians ‚Wirrwarr‘ und Mircos Coolness (irgendwie auch ein „Wirrwarr“) ist einfach genial; man ist mittendrin in ihren Köpfen, und die Verletzlichkeit von beiden ist nahezu spürbar; man ist dabei, wie etwas ganz Großes entsteht, eben diese Freundschaft, von der man am Anfang denkt: Das kann doch gar nicht gehen!
    Und genau die Beschreibungen über Fabians Wirrwarr im Kopf haben für mich Tourette mit Tics, Koprolalie etc. verstehbar gemacht.

    Es mag wirklich ähnliche Bücher geben.
    Aber in diesem Mix ist dieses Buch wirklich einzigartig!

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  4. Florian

    Wow – dieses Buch hört sich toll an, muss ich mir unbedingt mal besorgen…
    Auch die Kritik ist super! Viele Grüße…

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  6. Frank

    Hallo Ulf, ich habe das Blog „umgelagert“, vielleicht kannst du noch den Link in deinem Artikel ändern auf: http://www.landeplatzderengel.de
    Merci und viele Grüße FMR

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    1. Ulf Cronenberg

      Hallo Frank, hab ich gemacht.
      Viele Grüße, Ulf

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  7. Alice Gabathuler

    Monatelang auf dem „Unbedingt lesen“-Stapel gelegen. Dieses Wochenende verschlungen. Landeplatz der Engel ist eines der besten Bücher, das ich je gelesen habe.

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  10. Mimi

    Hallo,
    ich habe das Buch bisher nicht gelesen, aber den Film „Vincent will Meer“ gesehen, und als ich das hier las, fragte ich mich, ob es nicht letztendlich wirklich irgendwie als Drehbuch verwendet wurde. Zwar ist die Geschichte nicht genau gleich, doch die Ausgangssituation ist die gleiche. Vincent mit dem Tourett-Syndrom und der Vater. Auch der Film ist ein Roadtrip-Film, in dem Vincent mit zwei anderen (sie sind allerdings junge Erwachsene) abhaut. Also, wen das interessiert: Ist ein wirklich guter Film!

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