(Sauerländer-Verlag 2007, 304 Seiten)
Es gibt nicht viele Jugendbücher aus Osteuropa, die in Deutschland veröffentlicht werden. Iva Procházková ist Tschechin und hat mir ihrer Familie von 1986 an zehn Jahre in Deutschland gelebt… Etwas überrascht, war ich, als ich im Buch nachgeguckt habe, wer das Original ins Deutsche übersetzt hat – aber es findet sich kein Hinweis auf eine Übersetzung. Anscheinend hat Iva Procházková das Buch selbst auf Deutsch geschrieben – man findet nur einen Hinweis darauf, dass jemand an der deutschen Fassung mitgearbeitet hat.
Iva Procházková hat schon einige Jugendbücher geschrieben; darunter immer wieder auch Zukunftsromane – so wie ihr neuestes Buch „Wir treffen uns, wenn alle weg sind“. Darin spielt die Autorn ein ziemlich schlimmes Szenario durch…
Inhalt:
Mojmir Demeter stammt von Zigeunern ab und ist in einem Kinderheim in Prag aufgewachsen. Obwohl er inzwischen eine Lehre bei einem Koch macht und eigentlich auf eigenen Beinen stehen könnte, zieht er es doch noch vor, weiterhin im Kinderheim zu wohnen, weil er sich dort zu Hause fühlt.
Gegen Ende seiner Lehre wird Mojmir von der Heimleiterin angesprochen, dass er im Sommer doch wieder – wie all die Jahre zuvor – ein paar Wochen bei Frau Kalomova, einer alten Witwe, verbringen soll. Diese würde sich freuen, wenn Mojmir, der für sie fast wie ein Sohn ist, sie besucht. Doch Mojmir ist nicht allzu begeistert von der Idee, auch wenn er Frau Kalomova, die er liebevoll nur Omi Kalomi nennt, sehr gerne mag. Er will weder Egon, seinen besten Freund, noch Herrn Matula, den Koch, bei dem er lernt, im Stich lassen.
Schließlich reist Mojmir doch ab, um Frau Kalomova im Isergebirge in ihrem einsam gelegenen Haus zu besuchen.
Der Zeitpunkt für die Reise könnte nicht besser gewählt sein, denn gerade machen erschreckende Nachrichten aus allen europäischen Städten die Runde: EBS, eine schlimme Krankheit, beginnt sich rasant auszubreiten und alle Menschen zu gefährden. Während Mojmir schon bei Omi Kalomi ist, nimmt die Seuche immer schlimmere Formen an – weit weg von Prag bekommt Mojmir das jedoch nur am Rande mit.
Wie EBS die Menschen befällt, weiß bisher niemand, doch die Folgen sind fürchterlich: Die Menschen lösen sich nach und nach auf, bis sie schließlich nur noch Luft sind. In Tschechien werden Menschen mit EBS von der Hygiene-Polizei in spezielle Auffanglager gesteckt, wo niemand mehr lebend herauskommt.
Durch einen Handy-Anruf von Egons Freundin bekommt Mojmir schließlich mit, dass die Hygiene-Polizei wahrscheinlich auch Egon verhaftet hat. Mojmir möchte am liebsten sofort nach Prag, um nach seinem Freund zu suchen – aber auch Oma Kalomis Zustand – sie hat Krebs im Endstadium – verschlechtert sich zusehends, so dass er sie nicht alleine zurücklassen kann…
Bewertung:
EBS und die Folgen – das klingt alles schon sehr aus der Luft gegriffen: eine Krankheit, bei der die Menschen immer leichter und durchsichtiger werden, sich schließlich in Luft auflösen, bis irgendwann nur noch die Kleider zurückbleiben. Das ist ein verrücktes und zugleich erschreckendes Gedankenspiel der Autorin, das mir anfangs etwas seltsam vorkam. Aber je länger man in dem Buch liest, desto realer wird die Geschichte. Denn bis auf die mysteriöse Krankheit entwirft das Buch ein nicht so ganz unwahrscheinliches Zukunftsszenario. Wenn man sich überlegt, was eine so schlimme Seuche für Folgen haben könnte (auch hier in Deutschland), so klingt vieles, was in dem Buch geschildert wird, nicht so ganz weit hergeholt: dass erkrankte Menschen in spezielle Lager eingewiesen werden, dass es eine Hygiene-Polizei gibt, usw.
Die Zukunft in Iva Procházkovás Buch ist ziemlich hoffnungslos und pessimistisch beschrieben. Dennoch hat das Buch auch etwas Optimistisches und Hoffnungsvolles – und das liegt vor allem an den Hauptpersonen und daran, wie sie miteinander umgehen. Mit Mojmir und Omi Kalomi, aber auch einigen anderen später im Buch hinzukommenden Personen hat Iva Procházková interessante Figuren erschaffen, die das Buch lebendig machen und die das Trostlose ihrer Lebessituation immer wieder überwinden. Mojmir und Omi Kalomi sind faszinierende Menschen, die nicht mit dem Strom schwimmen, sondern sich eigene Gedanken machen und ihr eigenes Leben zu leben versuchen. In ihrer Bescheidenheit sind sie damit fast so etwas wie Vorbilder.
Fazit:
5 von 5 Punkten. Iva Procházková hat mit „Wir treffen uns, wenn alle weg sind“ einen spannenden und interessanten Zukunftsroman geschrieben, der von der Geschichte wie von den Figuren lebt. Die Mischung aus düsterer Zukunft und den trotz der schlimmen Ereignisse noch immer hoffnungsvollen Menschen macht dieses Buch zu etwas Besonderem. Gleichzeitig ist das Buch eine Warnung, uns nicht zu sicher in unserer komfortablen Welt zu fühlen, Iva Procházková zeigt uns mit ihrem Gedankenspiel, dass unsere weichen Sofakissen durchaus gefährdet sein können – gerade durch eine Krankheit, die sich schnell und unkontrolliert ausbreiten könnte. Man liest und hört in den letzten Jahren ja immer wieder mal etwas über neue gefährliche Krankheitserreger (Vogelgrippe, Ebola-Virus, etc.) in den Medien. Bisher ist nichts Schlimmes passiert – aber wer weiß, ob das so bleiben wird…
(Ulf Cronenberg, 12.04.2007)
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