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Buchbesprechung: Andreas Thalmayr "Lyrik nervt"

Cover ThalmayrLesealter 13+(Hanser-Verlag 2004, 104 Seiten plus Anhang/Quellenverzeichnis)

„Lyrik nervt“ ist für diese Internetseiten ein besonderes Buch – denn bisher wurden hier nur Jugendromane besprochen. Bei diesem dünnen Band handelt es sich dagegen eher um eine Art Sachbuch – und zwar über Gedichte.
Andreas Thalmayr? Nie gehört? Den gibt es auch nicht – denn Thalmayr ist niemand anderes als Hans Magnus Enzensberger, einer der bekanntesten deutsche Lyriker der Gegenwart (wer mehr über HME wissen will, kann hier etwas nachlesen: eine Linksammlung und den entsprechenden Wikipedia-Artikel). Den Namen Andreas Thalmayr hatte sich Enzensberger schon einmal vor knapp 20 Jahren ausgeliehen – damals jedoch für ein Erwachsenenbuch über Lyrik.

Inhalt:

„Sehr geehrter Herr Rilke,
ich habe mich leider sehr über Sie ärgern müssen. Sie sind Schuld daran, dass ich einen Vierer geschrieben habe. Frau Dr. Schiedling, unsere Deutschlehrerin, hat uns am Donnerstag ein photokopiertes Gedicht von Ihnen hingeschmissen, und wir mußten eine Schulaufgabe darüber schreiben. Ich schicke Ihnen meinen Aufsatz, damit Sie selber sehen, was mir zu diesem Gedicht eingefallen ist. Viel ist es nicht. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was Sie sich dabei gedacht haben!“

Mit dieser (erfundenen) Briefeinleitung ist eigentlich schon klar, was Andreas Thalmayr (ich werde HMEs Namensversteckspiel zumindest bei der Inhaltszusammenfassung mitspielen) mit seinem Lyrik-Buch beabsichtigt: Er will einerseits Jugendlichen Gedichte näher bringen, andererseits auch deutlich machen, dass diese ganze schulische Gedichtinterpretiererei aus seiner Sicht oft wenig sinnvoll ist und dazu führt, dass Jugendliche von Gedichten genervt sind.
Und wie will Thalmayr wieder Lust am Gedichtelesen wecken? Eigentlich (fast) ganz einfach, wenn man nach dem Lesen des Buches nach dessen Geheimrezept fragt:
Zum einen finden sich in dem dünnen Bändchen sicherlich hundert Gedichte – die meisten für Jugendliche recht ansprechend und gelungen, aber auch einzelne, mit Bedacht gewählte abschreckende Exemplare (die Gedichte sind übrigens durch rote Schrift vom erläuternden Text abgesetzt). Hiphop-, Rockmusik- und Schlagertexte werden dabei als moderen Ausdrucksformen von Gedichten angesehen (warum auch nicht!?). Mit den Fantastischen Vier oder Bob Dylan tut sich ein Jugendlicher ja auch leichter als mit Goethe und Eichendorff…
Zum anderen schreibt Thalmayr im jugendlichen Stil. Das gilt nicht nur für Satzbau und Wortwahl. Dazu gehört es auch, dass Fachbegriffe der Gedichtanalyse oft nur in Klammern nebenbei vorgestellt werden – mit dem Hinweis, das sei ja nicht so wichtig… Auch das mag in ihrem bisherigen Leben gedichtgeplagten Jugendlichen gefallen.
Aber das ist noch nicht alles… Die wichtigste Fährte, die das Buch zu Gedichten legt, ist die ständig präsente Lyrik-Begeisterung des Autors. Und die ist überall präsent.
Den Schluss des Bandes (nach Kapiteln zu Rhythmus, Reim, modernen Gedichten…) bilden 15 Seiten, auf denen Jugendliche dazu verlockt werden, es doch selbst einmal mit dem Gedichteschreiben zu versuchen. In sieben Lektionen werden ganz konkrete Tipps und Ideen vorgestellt, mit Gedichten spielerisch umzugehen und eigene Versuche zu wagen…

Bewertung:

Andreas Thalmayr alias Hans Magnus Enzensberger hat natürlich grundsätzlich Recht: Gedichtbesprechungen im Deutschunterricht sind oft einfach fad (da muss ich mir als Deutschlehrer sogar an die eigene Nase fassen!) – und es ist dringend notwendig Abhilfe zu schaffen. „Lyrik nervt“ ist ein gelungener Versuch, da mitzuhelfen – das kann man dem Buch attestieren. Denn das Buch richtet den Blick auf das Wesentliche, und zeigt, wie man Jugendliche für Gedichte und Sprache begeistern kann. Es kommt auf den Spaß am Gedichteschreiben an, darauf, eigenen Gefühlen (himmelhochjauchzenden, aber auch zutodebetrübten) mit Worten einen Raum zu geben, sie mitzuteilen usw.
Thalmayr bemüht sich, all das in jugendlichem Sprachstil auszudrücken: Gedichte „scheppern“, sie „holpern“, sie sind „so schwierig zu öffnen wie ein Banktresor“, nicht nur eines ist „zugegeben, kein so dolles Gedicht“, es ist „Allerhand, was sich im Deutschen so alles reimt“, die Odysee ist „eine äußerst starke Story, besser als jedes Drehbuch“ etc. Ob das wirklich bei Jugendlichen ankommt? Für mich klingt es doch ein bisschen so, als würde HME hier ein bisschen die Jugendsprache von vor 20 Jahren imitieren. Das wirkt manchmal ein bisschen aufgesetzt. Aber trotzdem macht das Lesen des Buches einfach Spaß.

Fazit:

4-einhalb von 5 Punkten. Lyrik nervt nicht, sofern man die richtigen Gedichte findet und sie nicht in der Schule zerredet; und wenn man auch zugeben darf, dass man ein Gedicht nicht versteht oder es einfach schlecht findet. Das ist halt Geschmackssache… Um diesen Weg einschlagen zu können, ist „Lyrik nervt“ ein nützlicher Erste-Hilfe-Kasten, auch wenn die Sprache vielleicht ab und zu ein wenig anbiedernd wirkt. Aber darüber sehen wir hinweg – zumal ein Test an Jugendlichen noch aussteht und sie das vielleicht ganz anders sehen…
Bei hartnäckigen Lyrik- und Leseverweigerern wird auch dieses Buch nicht weiterhelfen. Ansonsten ist das Buch jedoch wärmstens zu empfehlen – auch für erwachsene Gedichtmuffel, Gedichtliebhaber und vor allem Deutschlehrer.

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(Ulf Cronenberg, 12.04.2004)

Weitere Meinungen:

Ein Buch, das den oft von Gedichtinterpretationen in der Schule abgeschreckten Lesern einen neuen Zugang zum Bereich der Poesie eröffnen will, ist an sich eine prima Idee und sicher gut gemeint. Es bleibt nur die Frage, ob die edle Intention in dem Buch auch umgesetzt werden kann. Kaum eine Spielart oder Sonderform wird ausgelassen. Überall finden sich Beispiele, die aber nicht in allen Fällen glücklich gewählt sind. Die größte Schwachstelle des Buches: Einerseits wird fast jede Erscheinungsform mit den entsprechnden Fachausdrücken erwähnt, doch alles nur kurz angesprochen, wie um einer selbst auferlegten Vollständigkeit zu genügen. Weder erscheinen die Begriffe in einem Index noch wird wirklich auf die einzelnen Phänomene eingegangen. Mehr noch: Häufig werden diese Details sofort im Anschluss an die Nennung in ihrer Bedeutung relativiert oder negiert, gar verurteilt.
Die Darstellung kreist immer wieder um freie Verse und Loslösung von Schemata. Dabei mutet es an mancher Stelle auch merkwürdig an, wenn man weiß, dass Thalmayr und Enzensberger ein und dieselbe Person sind, wobei Textbeispiele von Letzterem in fast selbstgefälliger Weise eingebracht werden. Die sieben Vorschläge zum Selbermachen finde ich, um es mit Verlaub zu sagen, nichts Neues. Der Autor sollte einmal in die Schulen gehen, wo solcherlei spielerisches Herangehen schon lange betrieben wird, wie ich aus eigener Erfahrung berichten kann. Gut gefällt mir das Schlusswort, das den anti-kommerziellen Charakter der Lyrik herausstellt.
Insgesamt ist dem Buch zu wünschen, dass es allein durch seine Existenz Leser lockt und für die Sache gewinnt. Es ist immerhin ein lobenswerter Versuch.

(Iris Henninger)


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